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Theresienstadt - Ein Sonderfall in der Geschichte der Shoah

von Wolf Murmelstein, Sohn des letzten Judenrat-Ältesten von Theresienstadt

Letztes Update 23. September 2006






Das Ghetto Theresienstadt hat in der Geschichte der Shoah aus verschiedenen Gründen eine besondere Bedeutung:

1. Im Rahmen der deutschen Besatzungspolitik in Böhmen und Mähren hielt es Heydrich, der neben der Leitung des RSHA (Reichssicherheitshauptamt) ab Sommer 1941 auch das Amt des Reichsprotektors von Böhmen und Mähren innehatte, für richtig, nicht alle Juden sofort in den "Osten“ zu verschicken, sondern den Schein eines möglichen Verbleibens im Lande zu schaffen.

2. Im Reich fand zwar die "Aussiedlung der Juden“ breite Zustimmung; man konnte aber verschiedene Gruppen (Alte, Frontkämpfer mit Auszeichnungen, Personen mit besonderen Beziehungen usw.) nicht so einfach im Osten verschwinden lassen. Im Reich sollten keine Ghettos eingerichtet werden, aber nur 3 km von der damaligen Grenze, im Protektorat, konnte eine alte Garnisonsstadt – Theresienstadt (auf tschechisch Terezin) als "Jüdisches Siedlungsgebiet“ deklariert werden.

3. Die Formulierung "Jüdisches Siedlungsgebiet“ mit einer "Selbstverwaltung“ (Judenältester, mit Stellvertretern und einem Ältestenrat) sollte das wirkliche Ziel der Deportationen tarnen, das Ideal des Zionismus (jüdische Heimstätte in Palästina) verhöhnen und den Idealismus junger Zionisten ausnutzen.

4. Es handelt sich um das einzige Ghetto, das vom Internationalen Roten Kreuz befreit wurde (ca. 18.000 Insassen sowie weitere KZ-Häftlinge, die in den letzten Tagen dazu kamen).

Die Wahl der Festung Theresienstadt, an der Mündung der Eger in die Elbe, als Ghetto entsprach auch weiteren Anforderungen, lag es doch im Protektorat (sehr nahe zum Sudetengebiet) mit seiner verlässlichen Bevölkerung, und war es doch wegen der Festungsmauern leicht zu bewachen. Die viele Kasernen eigneten sich gut als Massenquartiere, und im nahen "Polizeilager Theresienstadt“ ("Kleine Festung“) konnten die Liquidierungen diskret und ohne Aufsehen durchgeführt werden. Die Nähe von bekannten Badekurorten erlaubte den Propagandatrick, es als "Theresienbad“ darzustellen... Um die weiteren Probleme sollten sich eben die Juden kümmern:
Die Jüdische "Selbstverwaltung“ musste unter größten Schwierigkeiten Wohnraum, Wasserversorgung, Ernährung, Gesundheitswesen usw. verwalten. Wenn nicht die jüdische Verwaltung, wer denn hätte sich darum gekümmert? Schon im Oktober 1939 schloss der "Fachmann für die Judenfrage und Zionismus“, Eichmann, in Nisko (Polen, nahe Lublin) seine Rede mit den klaren Worten: "sonst heißt es eben sterben“.

Die jüdischen Funktionäre hatten keinen Zutritt zu wirklichen Entscheidungsträgern und mussten bei SS-Offizieren von nicht hohem Rang, die selber nur einen kleinen Spielraum hatten und auch bespitzelt wurden, vorsprechen und harte, grob ausgedrückte Befehle empfangen, die ohne Widerspruch in kürzester Zeit durchzuführen waren. Um eine Milderung dieser Befehle zu erreichen, musste man für den SS-Offizier annehmbare Argumente in richtiger Form und im richtigen Augenblick vortragen. Die drei Kommandanten waren Siegfried Seydl (vom Anfang bis zum 2. Juli 1943), Anton Burger (vom 2. Juli 1943 bis 8. Februar 1944) und Karl Rahm (vom 8. Februar 1944 bis 5. Mai 1945).

In ihren strengen Urteilen über Judenälteste und Judenräte beachten die "Historiker“ weder, dass jede dieser Vorsprachen (stundenlang stehend!) bei der SS mit Verhaftung und Martyrium enden konnten, noch den psychischen Stress, der sich aus dieser Situation ergab. Niemand berücksichtigt, dass die drei Judenältesten von Theresienstadt, Jakob Edelstein (aus Prag) vom Anfang bis 30. Januar 1943, Paul Epstein (aus Berlin) vom 30. Januar 1943 bis zum 27. September 1944, Benjamin Murmelstein (aus Wien) vom 27. September 1944 bis zur Befreiung, wie auch andere Funktionäre, Gelegenheit gehabt hatten sich selber in Sicherheit zu bringen. Sie hatten in Ihren Gemeinden die Auswanderung von vielen Juden organisiert und trafen sich danach eben in Theresienstadt wieder.

Im Vergleich zu den Ghettos im Osten und den Konzentrationslagern war Theresienstadt ein Musterghetto aber dennoch eine Zwangsgemeinschaft. Da mussten Glaubensjuden mit getauften Leidensgenossen, Kommunisten mit Zionisten, Anhänger der Habsburger und Hohenzollern mit denen von Masaryk/Benes (es waren auch einige "jüdische Nazis“ dabei) zusammen versuchen zu überleben; das Leben war eine andere Sache.

Von November 1941 bis April 1945 kamen Transporte aus Böhmen und Mähren, Deutschland, Wien, Holland, Dänemark, der Slowakei. Von Januar 1942 bis Oktober 1944 gingen Transporte ab.
Man wusste nicht wohin und zog das Bekannte dem unbekannten Übel vor. Fast bis zum Ende wusste man nichts über das wahre Ziel und Los der abgegangenen Transporte. Aus nach dem Krieg verfügbaren Dokumenten kann man als Transportziele das Ghetto von Riga, die Ghettos von Izbica und Piaski bei Lublin, Treblinka und Auschwitz (auch Birkenau genannt) nennen. Die Arbeitsfähigen (die Männer wurden von der SS auch als kampffähig betrachtet, was bittere Folgen hatte) kamen hauptsächlich aus Böhmen und Mähren. Die pflegebedürftigen Alten hauptsächlich aus Deutschland und Wien. Dazu kamen noch "Prominente“:
Persönlichkeiten, die entweder im Ausland zu bekannt waren um einfach im Osten zu verschwinden oder irgend eine Beziehung hatten, mit der Eichmann für eine gewisse Zeit, auch bis zum Ende, rechnen musste. Das Wegfallen der Protektion (Protektor selber verhaftet oder gestorben, neue politische Lage, 20. Juli 1944 usw.) oder kein weiteres Interesse der SS, den Betreffenden noch vorzuzeigen, bedeutete Einreihung in den nächsten Transport.
Die wichtigsten dieser Persönlichkeiten waren der Rabbiner und Gelehrte Leo Baeck aus Berlin, die Juristen Heinrich Klang (Wien) und Eduard Meijers (Holland), der Finanzmann Felix Stransky aus Wien, der frühere tschechoslowakische Minister Alfred Meissner aus Prag, der frühere französischer Minister Léon Meyer. Richtige Protektion hatten z.B. der Freikorpskämpfer Karl Löwenstein und die Witwe des SA- Obergruppenführers August Schneidhuber, die bis zum Ende der Transporte geschützt waren.
Hingegen fast alle ehemaligen Offiziere mit hohen Auszeichnungen (Eisernes Kreuz usw.) sowie einige Agenten der Abwehr, die sich (weil nicht rechtzeitig ins Ausland geschickt) in Theresienstadt befanden, wurden mit den letzten Transporten (September/Oktober 1944) verschickt. An diesem Beispiel sieht man, wie sich ein Ereignis außerhalb des Ghettos (der 20. Juli 1944 und der darauf folgenden Verhaftungen und Hinrichtungen) durch das Wegfallen von Protektion in Theresienstadt ausgewirkt hat.
In einem der Transporte vom Oktober 1944 waren viele Musiker zusammen eingereiht. Darüber gibt es viele Spekulationen, die sich aber als Seifenblasen entpuppen wenn man beachtet, dass die Selbstverwaltung von Anfang an Künstler zu leichten Arbeiten einteilte, die ihre Hände nicht schädigen und ihre Teilnahme an den Darstellungen nicht hindern sollten, aber vor der SS nicht als "unentbehrlich“ gelten konnten.

In Theresienstadt gab es, der jüdischen Eigenart entsprechend, ein reges kulturelles Leben. Gelehrte hielten Vorträge über viele Themen. Nur für die Protokolle der Studiensitzungen der Mediziner interessierte sich das zuständige Hauptamt der SS. Es gab im Rahmen der Möglichkeiten Konzerte, Theater und Kabarett.
In den Kinder- und Jugendheimen wurde, wenn auch als "Beschäftigung“ getarnt, Unterricht erteilt. Die Aufschrift auf einem Tor "Knaben- und Mädchenschule“ war eine der Farcen, die für den Besuch des dänischen und schwedischen Roten Kreuzes am 23. Juni 1944 vorbereitet wurden.

Deutsche Juden pflegten sich samstags und feiertags mit den Rabbinern ihrer Gemeinden zu treffen um eine Predigt zu hören, und trotz aller Schwierigkeiten wurden auch jüdische Gottesdienste abgehalten. Für das Pessach-Fest wurden Matzot gebacken, wofür die notwendige Bewilligung nicht leicht zu erhalten war.

Der erste Judenälteste (Jakob Edelstein – zionistischer Funktionär) sah in Theresienstadt eine Möglichkeit für die Juden aus Böhmen und Mähren in ihrer Heimat zu bleiben, wie auch eine Vorbereitung der Jugend für das Leben in Palästina. Diese Politik führte zu schweren Benachteiligungen der Alten aus Wien und Deutschland, und noch dazu weckte sie bei Eichmann den Verdacht über mögliche Verbindungen mit dem tschechischen Widerstand. In einer Festungsstadt mit vielen jungen Männern in arbeits- und kampffähigem Alter aber nur wenigen Alten konnte ein schwer niederwerfbarer Aufstand ausbrechen. In Herbst 1942 begann Eichmann diese "Gefahr“ mit drei Schritten zu entschärfen:
1. Die Leitung der Wachdienste im Ghetto wurde an Karl Löwenstein (berliner Freikorpskämpfer und Protestant) übertragen.
2. Eine Weisung verfügte die Berufung deutschsprachiger Funktionäre in den Ältestenrat. Der Stellvertreter des Judenältesten musste deutschsprachig (aus dem Reich oder aus Wien) sein.
3. Edelstein wurde Ende Januar 1943 abgesetzt. Judenältester wurde Paul Eppstein aus Berlin mit Edelstein und Murmelstein als Stellvertreter.

Der zweite Judenälteste Paul Eppstein (Dozent der Soziologie) hatte 1942 vier Monate im Gestapo-Gefängnis verbracht und kam Ende Januar 1943 nach Theresienstadt um Edelstein als Judenältesten abzulösen.
Um das Ghetto zu retten, versuchte Eppstein verzweifelt, das "Vertrauen“ von Eichmann zu gewinnen und vernachlässigte die internen, alltäglichen Probleme. Als deutscher Intellektueller glaubte er im Land der Richter und der Henker noch in der Sprache der Dichter und der Denker sprechen zu können, was bei der SS nur Argwohn erregte. Am 27. September 1944, am Versöhnungstag, vor dem Abgang des ersten September 1944 Transportes, wurde Eppstein verhaftet und in der "Kleinen Festung“ ermordet.

Die Leitung des Ghettos ging dann an den dritten und letzten Judenältesten Benjamin Murmelstein, Rabbiner und Gelehrter. Die Listen von den ersten zwei Transporten wurden schon von der früheren Leitung gemäß den Richtlinien der SS, praktisch ohne Wahl, zusammengestellt. Zu einem weiteren Transport meldeten sich die Frauen freiwillig, um ihren Männern zu folgen.

Am 2. Oktober 1944 wurde Murmelstein beim Tagesrapport das Ende der Transportwelle mitgeteilt: Zwei Stunden später kam die Weisung, Listen für neue Transporte zusammenzustellen. Murmelstein, in einer Nervenkrise ("alles verloren!“), begann zu widersprechen und auf die Unmöglichkeit weiterer Transporte hinzuweisen, bis der Kommandant Rahm ihn anschrie: "Hier wird nicht gehandelt, raus!“ Nach einer halben Stunde kam die Entscheidung der SS, die Listen in eigener Regie zusammenzustellen. In höllischen vier Wochen mussten erst die Familienangehörigen der im September "zur Arbeit“ Verschickten Theresienstadt verlassen; alle anderen mussten vor der SS erscheinen. Die Entscheidungen über "Bleiben“ oder "Osten“ wurden nach geheimen, noch heute unklaren Richtlinien getroffen. Murmelstein konnte nur versuchen, in einigen Fällen die Ausreihung aus der Transportliste zu erreichen. Nicht immer wurden die Gründe von der SS als stichhaltig anerkannt. Am Ende war es Murmelstein gelungen, die Ausreihung von ungefähr 500 Personen zu erreichen und, wichtig, ohne dass an deren Stelle andere verschickt wurden.

Ende Oktober 1944, nach der Transportwelle, befand sich Theresienstadt im Chaos, mit nur noch wenigen arbeitsfähigen Männern, vielen Pflegebedürtigen und noch circa 300 vorzeigbaren Prominenten. Auf den ersten Blick schien nun alles verloren, aber "die Prominenten könnten zur Rettung beitragen, wenn weitere Besuche kämen.“ Das Ghetto musste daher wieder vorzeigbar werden. Murmelstein (um die Leute zu harter Anstrengung zu ermuntern) entschied sich, gegen Privilegien, Missbräuche und Diebstähle hart vorzugehen, um Arbeitern eine Zusatzkost als Belohnung gewähren zu können ohne die Rationen der Pflegebedürftigen zu kürzen. Neben den wenigen Männern mussten auch die Frauen hart anpacken und leisteten Großes. Nach dem Besuch eines hohen SS-Offiziers Anfang Dezember 1944 kam die Weisung, mit einer neuen Stadtverschönerung zu beginnen. Ein Ghetto, das von Ausländern gesehen wurde, war schwer zu liquidieren.
Gleichzeitig mit der September/Oktober 1944 Transportwelle, als der Untergang wahrscheinlich schien, hatte der Verband der Orthodoxen Rabbiner der USA und Kanada endlich die Möglichkeit, den schweizer Bundesrat Jean Marie Musy (für seine deutschfreundliche Einstellung und guten Beziehungen zu Himmler bekannt) um Hilfe zu bitten. Der Weltkongress-Delegierte in Genf, Gerhard Riegener, hatte nie einen solchen Versuch unternommen. Dank seiner guten Beziehungen erreichte Musy erst die Entlassung von 1.200 Juden aus Theresienstadt in Februar 1945 (und deren Aufnahme in der Schweiz) als auch eine Besichtigung des Ghettos.
Einerseits das Eintreten von Musy, anderseits die Berichte, dass Theresienstadt durch die dort geleistete harte Arbeit wieder vorzeigbar war, dürften Himmler dazu gebracht haben, die Ausführung eines "Führerbefehls“ (das Ghetto Theresienstadt durch einen Todesmarsch zu liquidieren) zu verschieben. Nach dieser Entscheidung von Himmler hatten Eichmann & Co. die Idee, in eigener Regie in Theresienstadt einen Platz für Massenerschießungen und ein Gaskammer zu errichten. Murmelstein, von den Technikern auf die Gefahr aufmerksam gemacht, entschied sich in einem geeigneten Moment zu einer Vorsprache beim Kommandanten Rahm, der aber alles zornig leugnete. Nach drei Tagen kam jedoch aus Prag der Befehl (vom Höheren SS-Führer und Reichsminister für das Protektorat K. H. Frank?) zur Einstellung der Arbeiten.

Anfang März 1945 besuchte Eichmann Theresienstadt und beurteilte das Ghetto als vorzeigbar.
Am 6. April 1945 besuchte eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes Theresienstadt. Am Ende des Besuches sagte Murmelstein in einer vorher nicht zensierten Abschiedsrede: "Das Schicksal Theresienstadts bereitet mir Sorgen.“ Die Delegierten verstanden dieses Signal, und noch am selben Tag erreichten sie beim Reichsminister und SS-Führer Karl Hermann Frank, das Ghetto Theresienstadt in ihren Schutz nehmen zu können. Der Delegierte Paul Dunant unterrichtete die Leitung am 22. April, mit der Wahrung der Interessen des Ghettos betraut worden zu sein, und am 3. Mai 1945 verlegte er sein Amt nach Theresienstadt.

Am 5. Mai 1945 erhielt der letzte Kommandant Karl Rahm den Marschbefehl und verließ Theresienstadt; in Uniform, bewaffnet, und nur noch von einen Scharführer begleitet.
Das Ghetto wurde so vom Internationalen Roten Kreuz befreit, aber dazu musste man "Ruhe und Ordnung“ halten. Eine noch Anfang Mai leicht niederwerfbare "Revolution“ hätte die schwere Arbeit der Roten Kreuz - Delegierten zunichte gemacht und den Tod der Ghettoinsassen bedeutet.
Am 6. Mai 1945 dankte Leo Baeck in einem Brief Murmelstein für die unter schwierigen Umständen geleistete Arbeit.

Die Rote Armee erreichte Theresienstadt erst am Abend des 8. Mai 1945. Feldmarschall Schoerner kapitulierte in Nord-Böhmen erst am 11. Mai 1945.


GRUNDLEGENDE LITERATUR:

1. LEDERER, Zdenek: GHETTO THERESIENSTADT, London, 1953, englisch.
2. ADLER, H. G.: THERESIENSTADT, Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, 2. Ausgabe, Tübingen 1960, deutsch.
3. ADLER, H. G.: DIE VERHEIMLICHTE WAHRHEIT, Tübingen, 1958, deutsch. Sammlung von Dokumenten.
4. MURMELSTEIN, Benjamin: TEREZIN, IL GHETTO MODELLO DI EICHMANN, Bologna 1961, italienisch. Deutsche Ausgabe in Vorbereitung.
5. MAKAROVA, E.; MAKAROF, S.; KUPERMAN, V.: UNIVERSITY OVER THE ABYSS, 2. Ausg. Jerusalem 2004, englisch. Behandelt das Kulturleben in Theresienstadt.

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