Dieses Foto ist eines der bekanntesten und eindrucksvollen Fotos des Holocaust. Während die Identität
des deutschen SS-Mannes, der die Maschinenpistole auf das Kind richtet, geklärt ist, weiß man nicht
genau, wer der kleine Junge war. Die Namen einiger anderer Personen im Foto sind mittlerweile bekannt geworden.
Das Foto ist Bestandteil des infamen Berichtes "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!", den
der SS- und Polizeiführer im Distrikt Warschau, SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei
Jürgen Stroop, für
Heinrich Himmler und
Friedrich Wilhelm Krüger in drei Exemplaren anfertigte.
Siehe Auszüge aus
Richard Raskins Buch
A Child at Gunpoint:
1. Der Junge auf dem Foto
Es gibt vier mögliche Identitäten für den kleinen Jungen.
1.1. Artur Dab Siemiatek
Dieser Name wurde schon
1950 erwähnt, doch erst zwischen
zwischen 1977 und 78 legte
Jadwiga Piesecka,
Einwohnerin von
Warschau, ein von ihr am
24. Januar 1977 unterzeichnetes Dokument vor. Darin gibt sie an, dass der Junge auf dem
Foto
Artur Siemiatek war,
1935 geboren in
Lowicz. Er war der Sohn von
Leon Siemiatek
und
Sara Dab und der Enkel des Bruders der Unterzeichnerin,
Josef Dab.
Im folgenden Jahr, am
28. Dezember 1978, wurde in
Paris ein ähnliches Dokument vom Ehemann
Jadwiga Pieseckas verfasst,
Henryk Piasecki.
1.2. Tsvi Nussbaum
1982 meldete sich ein 47 Jahre alter Hals-, Nasen- und Ohrenspezialist in
Rockland County im Staat New York mit folgender Aussage:
1943, im Alter von 7 Jahren,
sei er in
Warschau inhaftiert gewesen und von einem vor ihm stehenden SS-Mann
aufgefordert worden, die Hände zu heben, wobei dieser ihn mit einer Waffe bedrohte. Obwohl Dr.
Nussbaum sich nicht daran erinnern konnte fotografiert worden zu sein, glaubte
er an die Möglichkeit, dieses Kind gewesen zu sein. Er war sich nicht ganz sicher, doch andere meinten, er
sei das Kind auf dem Foto.
Zwei Faktoren sprechen allerdings stark gegen diese Annahme: Erstens war er nie im Ghetto gewesen, obwohl er in
Warschau in Haft war. Zweitens erinnerte er sich genau daran, am
13. Juli 1943 gefangen genommen worden zu sein. Das war aber fast 2 Monate nach
Fertigstellung des Stroop-Berichtes.
In den frühen
30er jahren emigrierten
Nussbaums
Eltern von Polen nach Palästina, wo
Tsvi im Jahre
1935 geboren wurde. Nachdem der Konflikt zwischen Juden und Arabern in Palästina
ausgebrochen war, kehrte die Familie wieder nach Polen zurück, wo sie sich
1939
in
Sandomierz niederließ.
1942 wurden seine Eltern von den Nazis ermordet. Er kam nach
Warschau und lebte mit Tante und Onkel in einem Versteck im "arischen" Teil
der Stadt. 6 Monate lang sorgten sie sich um den Jungen, dann fielen sie der Gestapo in die Hände. Die
Nussbaums teilten das Schicksal vieler anderer verzweifelter Juden im
Hotel Polski und wurden auf die "Palästina-Liste" gesetzt. Am
13. Juli 1943
kamen LKWs, um sie abzuholen. Die Fahrt ging aber nicht nach Palästina, sondern nach dem
KZ Bergen Belsen. Dort wurden sie in einer Sonderbaracke untergebracht,
erhielten besseres Essen und mussten nicht arbeiten.
Wenn der Junge auf dem Foto
Tsvi Nussbaum sein soll, müsste das Foto
vor dem
Hotel Polski aufgenommen worden sein, aber nicht im Ghetto. Nach allgemeiner Auffassung
sind jedoch sämtliche Aufnahmen im Ghetto gemacht worden.
Dr.
Lucjan Dobroszycki bezweifelt in einem Artikel der
New York Times
die Identität des Jungen als
Tsvi Nussbaum:
"
Die Szene zeigt eine Straße, nicht den Hof, in dem die "Hotel Polski-Razzia"
statt fand. Einige der Juden tragen Armbänder, die sie jedoch im "arischen" Teil von
Warschau sicherlich abgenommen hätten. Die deutschen Soldaten hätten
vor dem Hotel keine Kampfuniformen tragen müssen. Die schwere Kleidung der meisten Juden legt die Vermutung
nahe, dass das Foto im Mai aufgenommen wurde - dem Zeitraum, als General
Stroop seinen Bericht anfertigte - und nicht im Juli.
Darüber hinaus wurde jedes andere Foto im "Stroop-Bericht" im Ghetto
Warschau aufgenommen."
Tsvi Nussbaum kommentierte:
"
Ich behaupte gar nichts - es gibt keine Belohnung. Ich fragte nicht nach dieser Ehre.
Ich denke, ich bin es, aber ich kann es ehrlicherweise nicht beschwören. Eineinhalb Millionen jüdischer
Kinder wurde befohlen, ihre Hände zu heben."
Schließlich verglich Dr.
K.R. Burns, Forensiker an der Universität
von Georgia, das berühmte Foto mit einem Passbild von
Tsvi Nussbaum, das
1945 aufgenommen worden war. Dabei wurde er von einem Experten im Vergleich von
Fotos unterstützt. Danach kam er zu diesem Ergebnis:
"
Nach Untersuchung der beiden Fotos zeigt sich ein wichtiger Unterschied, obwohl Mund, Nase
und Wange übereinstimmen: Die Ohrläppchen des 1943er Jungen sind anliegend,
die des 1945er Jungen liegen nicht an. Diese angeborene Eigenschaft kann sich auch im
Alter nicht ändern, und der Unterschied zeigt an, dass die Fotos nicht denselben Jungen darstellen."
Der
Eingang des ehemaligen
Hotel Polski in der
Dluga-Straße 29 wurde auch mit dem
1943er
Foto verglichen, doch es nicht erkennbar, ob es dasselbe Gebäude ist.
1.3. Levi Zelinwarger
Ende 1999 nahm der damals 95jährige
Avrahim
Zelinwarger Kontakt auf mit dem Ghetto Fighters House in Israel. Er informierte das Museum darüber,
dass der Junge auf dem Foto sein Sohn
Levi sei. Daraufhin ergänzte GFH
seinen Foto-Kommentar:
Nach der Aussage von
Abraham Zelinwarger aus
Haifa ist der Junge sein Sohn
Levi,
1932 - ?. Er meint, dass das Foto im Ghetto aufgenommen wurde, und zwar
in der
Kupiecka-Straße, in der Nähe der
Nalewki-Straße. Der Vater, von Beruf Damenfrisör, arbeitete damals als
Zwangsarbeiter beim Beseitigen von Trümmern und Schäden in einer ausgebrannten Gasanlage in
Warschau. Anfang
1940 konnte er auf sowjetisches
Gebiet fliehen.
Avrahim Zelinwarger bestätigte dem Autoren, dass die Frau neben dem
Jungen dessen Mutter ist,
Chana Zelinwarger.
Avrahim Zelinwarger glaubte, dass seine Frau, sein 11jähriger Sohn
Levi und seine 9jährige Tochter
Irina
1943 in einem KZ umgekommen sind.
1.4. Ein anonymer Überlebender
1978 kontaktierte ein Geschäftsmann aus
London
den
The Jewish Chronicle. Er behauptete, dass er der kleine Junge gewesen sei, nicht
Artur Dab Siemiatek. Dieser Mann bat darum, seinen Namen nicht zu
veröffentlichen. In seiner Aussage behauptete er, dass das Foto
1941
aufgenommen worden sei, und er erinnere sich daran, dass er keine Socken trug. Er hatte allerdings nur einen Teil
des Fotos sehen können und wusste nicht, dass der Junge auf dem Foto Socken trug.
2. Andere Juden, die auf dem Foto identifiziert worden sind
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Hanka Lamet |
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Matylda Lamet Goldfinger |
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Leo Kartuzinsky |
|
Golda Stavarowski |
In einer Yad Vashem Zeugenaussage (Nr. 90.540 von 1994) wurde
das kleine Mädchen ganz links auf dem Foto wurde von ihrer Tante
Esther
Grosbard-Lamet (
Miami Beach / Florida) identifiziert als
Hanka Lamet. Im selben Dokument ist
1937
als Geburtsjahr und
Warschau als Geburtsort angegeben. Ort und Umstände
ihres Todes sind verzeichnet mit "
Majdanek - in die Gaskammer gebracht".
Die USHMM-Webseite weist auch darauf hin, dass die Frau links neben dem kleinen Mädchen ihre Mutter
Matylda Lamet Goldfinger ist.
Der Junge, der den weißen Sack trägt, wurde von seiner Schwester
Hana
Ichengrin als
Leo Kartuzinsky identifiziert, gemäß
einer E-Mail von Yad Vashem an
Richard Raskin.
Nach USHMM wurde die Frau im rechten Hintergrund von ihrer Enkelin
Golda Shulkes
(Victoria / Australia) als
Golda Stavarowski identifiziert.
3. Der SS-Mann: Josef Blösche
Die einzige Person im Foto, die zweifelsfrei identifiziert werden konnte, ist der SD-Mann, der seine Maschinenpistole
in Richtung auf den kleinen Jungen hält.
Es war der SS-Rottenführer
Josef Blösche, ein gefürchteter Mann,
der sich oft mit SS-Untersturmführer
Karl–Georg Brandt und
SS-Oberscharführer
Heinrich Klaustermeyer zusammentat, um die
Ghettobewohner mit Menschenjagden zu terrorisieren und sie wahllos zu töten.
Blösche wurde
1912 in
Friedland (ehemaliges "Sudetenland") geboren. Nachdem er SS-Mann geworden war,
bewachte er die Grenze am Fluss Bug bei
Platerow. Im
Mai 1941 wurde er zur SS in
Siedlce versetzt.
Nach seinem Dienst in einer Einsatzgruppen-Einheit in
Baranowitsche wurde er
zur Sicherheitspolizei in
Warschau versetzt, wo er schließlich bei der
Niederschlagung des Aufstandes im
Warschauer Ghetto im
April 1943 und des polnischen Aufstandes im
August 1944
eingesetzt wurde.
In Haft machte
Blösche folgende Aussage:
"
Ich habe die vorgelegte Fotokopie betrachtet. Was die Person in SS-Uniform betrifft, die
vor einer Gruppe SS-Männer steht, eine Maschinenpistole im Anschlag hält und einen Stahlhelm mit
Motorradbrille trägt, das bin ich.
Das Foto zeigt, dass ich als Mitglied des Gestapo-Büros im Warschauer Ghetto,
zusammen mit einer Gruppe SS-Männer, eine große Anzahl jüdischer Bürger aus einem Haus treibe.
Die Gruppe jüdischer Bürger besteht vorwiegend aus Kindern, Frauen und alten Leuten, die mit erhobenen
Armen durch eine Einfahrt aus einem Haus getrieben wurden.
Die jüdischen Einwohner wurden dann nach dem sogenannten Umschlagplatz gebracht, von dem sie nach dem
Vernichtungslager Treblinka transportiert wurden."
Gezeichnet
Josef Blösche.
Blösche machte in einem weiteren Verhör noch eine andere Aussage:
"
Ich kann mich jetzt an eine Erschießung von jüdischen Einwohnern im
Warschauer Ghetto erinnern. Sie fand zu einem Zeitpunkt statt, als es keine
Transporte nach dem Vernichtungslager Treblinka gab. Im SD-Büro im Ghetto
gab Brandt jedem von uns eine kleine Schachtel mit Pistolenmunition.
Neben mir waren Rührenschopf, Klaustermeyer und andere Gestapo-Mitglieder,
an deren Namen ich mich heute nicht mehr erinnern kann. Brandt führte uns
in die Mitte des Ghettos. Ich kann mich nicht mehr an die genaue Zeit erinnern, weiß aber noch, dass die
Erschießung in einem Hof stattfand, zu dem man durch eine Einfahrt von der Straße aus kam.
Darüber hinaus weiß ich noch, dass während der Erschießung ein Lastwagen mit jüdischen
Einwohnern vorbei fuhr. In dem Moment stand ich am Eingang zum Hof. Wie viele Gestapo-Männer da waren, kann ich
nicht mehr genau sagen, es können zwischen 15 und 25 gewesen sein."
Gezeichnet
Josef Blösche,
Berlin,
25. April 1967
Für seinen Einsatz und Eifer während des Aufstandes im
Warschauer Ghetto
wurde
Blösche mit einem Orden ausgezeichnet
In seinem Prozess in
Erfurt im
April 1969
wurde
Blösche für schuldig befunden, Kriegsverbrechen begangen zu haben
und am Morgen des
19. April 1943 an der Erschießung von mehr als 1.000 Juden im Hof
eines Gebäudekomplexes teilgenommen zu haben.
Er wurde am
29. Juli 1969 in
Leipzig
durch Genickschuss hingerichtet.
Blösche wurde 57 Jahre alt.
Quellen:
Richard Raskin.
A Child at Gunpoint. Aarhus: Aarhus University Press, 2004
Helge Grabitz und Wolfgang Scheffler.
Letzte Spuren. Berlin: Edition Hentrich, 1988
WDR TV Dokumentation (von H. Schwan).
Der SS-Mann Josef Blösche. 2003
© ARC 2006