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Karten |
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Luftbild |
Die Fürsorge für Geisteskranke war in Preußen Aufgabe der aus ständischen
Vorformen hervorgegangenen Provinzialverbände. Die Geschäfte eines Verbandes wurden
durch den Provinzialausschuss als Beschluß- und den Landeshauptmann als Ausführungsorgan
wahrgenommen. Die Staatsaufsicht übte ein Oberpräsident aus. Durch Gesetz vom
17. Dezember 1933 wurden die Selbstverwaltungsaufgaben - auch die
Geisteskrankenfürsorge -
dem Oberpräsidenten übertragen. Der Landeshauptmann wurde dem Oberpräsidenten in den
Angelegenheiten des Provinzialverbandes unterstellt. Stärker noch als durch diese Zuständigkeitserweiterungen
wurde der Charakter des Oberpräsidenten-Amtes durch die Verquickung mit der Parteigewalt der
Gauleiter verändert. Die in allen Provinzen vollzogene Personalunion zwischen den Gauleitern der NSDAP
und den Oberpräsidenten (in Pommern
1934) ermöglichte es diesen, einen von
der Zentralgewalt weitgehend unabhängigen Machtapparat aufzubauen. Weiteren Machtzuwachs erfuhren die
Oberpräsidenten/Gauleiter,
als mit Kriegsbeginn den Wehrkreisen ein ziviler Vertreter zugeordnet wurde, der die inneren
Kriegsanstrengungen koordinieren sollte. Als sogenannte Reichsverteidigungskommissare wurden ausschließlich
Gauleiter eingesetzt. Da sich – je angespannter die Kriegslage wurde, um so mehr – jede denkbare
Verwaltungsaufgabe unter dem Aspekt der Reichsverteidigung betrachten und für kriegswichtig
erklären ließ, konnten die Befugnisse der Reichsverteidigungskommissare von diesen zunehmend
extensiv ausgelegt werden.
So spielten die Reichsverteidigungskommissare auch eine maßgebliche Rolle bei der Verlegung von
Patienten der Heil- und Pflegeanstalten. Unter dem Vorwand der Räumung für kriegswichtige Zwecke
oder der Evakuierung aus bombengefährdeten Gebieten fanden in ihrem Auftrag zahlreiche Transporte von
Geisteskranken in die Vernichtungsanstalten der
"Aktion T4" statt. Reichsverteidigungkommissar für den Wehrkreis
II war der Oberpräsident der Provinz und der Gauleiter des Gaues Pommern,
Franz Schwede-Coburg.
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Haupteingang |
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Meseritz-Obrawalde #1 |
Die "Provinzial-Irrenanstalt Obrawalde bei Meseritz" war
1904 als vierte Irrenanstalt
der preußischen
Provinz Posen eröffnet worden und lag kaum zwei Kilometer von der Kreisstadt Meseritz entfernt im
Westen der Provinz. Als die Existenz der Provinzen Posen und Westpreußen durch die Bestimmungen
des Versailler Vertrages am
10. Januar 1920 endete, wurden ihre Restgebiete, darunter der
verkleinerte Landkreis Meseritz mit der Heilanstalt,
1922 in der neuen Provinz
"Grenzmark Posen-Westpreußen“
zusammengefasst. Einzige Heil- und Pflegeanstalt der Provinz war Obrawalde. Bei der Auflösung der
"allen rationalen Verwaltungsgrundsätzen“ widersprechenden Provinz kam der ganz überwiegende Teil
1938 als Regierungsbezirk Posen-Westpreußen an Pommern, der Kreis Meseritz
an Brandenburg; die Landesanstalt Obrawalde, obwohl jetzt auf brandenburgischem Gebiet liegend, wurde ebenfalls dem
Provinzialverband Pommern zugeschlagen.
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Meseritz-Obrawalde #2 |
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Patienten |
Damit übernahm Pommern eine moderne, leistungsfähige Einrichtung, die damals noch über
acht Abteilungen verfügte: neben der Heil- und Pflegeanstalt gab es ein Altersheim, eine Frauenklinik
und eine Kleinkinderabteilung, eine orthopädische, innere und neurologische Abteilung sowie eine
Lungenheilstätte. Nachdem die Frage der künftigen Nutzung der Krankenanstalten zunächst durchaus
unentschieden gewesen war, hieß es im
Frühsommer 1939: "Nachdem sich in
Verhandlungen mit der Stadt
Berlin die Gelegenheit geboten hatte, die Anstalt
mit Geisteskranken aus
Berlin voll zu belegen, ist sie jetzt eine reine Heilanstalt
für Geisteskranke geworden.“
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Schlafsaal |
Die Wiederumwandlung Obrawaldes in eine Anstalt für psychisch Kranke war nur eine erste
Maßnahme zur Neuordnung der Geisteskrankenfürsorge in Pommern. Am
13.12.1941
berichtete
Schwede-Coburg der Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und
Pflegeanstalten zusammenfassend,
dass die Anstalten in
Lauenburg (990 Betten), in
Stralsund (1.150 Betten) und
Stettin-Kückenmühle (1.500 Betten) an die Waffen-SS abgegeben seien
und die Anstalt
Treptow/Rega (980 Betten) als Reserve-Lazarett diene. 3.720
Betten waren so freigeräumt worden. Bereits im Haushalt des Provinzialverbandes für
1940 heißt es: "Weitere Veränderungen ergaben sich
insofern, als nach dem Abschluss des polnischen Feldzuges aus den pommerschen Anstalten über
2.300 Geisteskranke außerhalb der Provinz untergebracht werden konnten. Die "Unterbringung“
dieser 2.300 Geisteskranken in den eroberten polnischen Gebieten ist als Tarnbezeichnung einer frühen,
auf Pommern und die Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland beschränkten
Krankenmord-Aktion zu verstehen. Die in den Reichsgau Danzig-Westpreußen und in den Warthegau
transportierten Kranken wurden
zwischen Oktober 1939 und Januar 1940 von SS-Kommandos
erschossen oder mittels
Gaswagen ermordet. An diesen Aktionen soll der spätere
Direktor der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde,
Walter Grabowski, beteiligt gewesen sein.
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Kinderabteilung |
Zeitlich mit dieser ersten Mordaktion sich überlappend begann
Ende 1939 die
zentral von der
Berliner Tiergartenstraße 4 aus gesteuerte Aktion
zur Ermordung von mindestens 70.000
psychisch kranken und geistig behinderten Menschen. Unter den vor einiger Zeit in einem Archiv des
ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (DDR) aufgefundenen und jetzt im Bundesarchiv
Berlin
befindlichen Krankengeschichten psychiatrischer Patienten, die im Zuge dieser Aktion in den Jahren
1940/41 ermordet wurden, befindet sich auch ein 167 Einzelakten umfassender Bestand,
der der Anstalt Obrawalde zugeordnet wurde. Es kann als sicher angenommen werden, dass die Zahl der
erhaltenen Akten nicht annähernd der Gesamtzahl der im Zuge der Aktion ermordeten Obrawalder
Patienten entspricht; diese dürfte weitaus höher liegen. Fast immer findet sich als letzter Eintrag
in den Krankengeschichten: "Verlegt in eine andere Anstalt", was als Tarnbezeichnung für die
Verlegung in eine der Tötungsanstalten der Aktion T4 zu verstehen ist.
In der Akte einer Patientin, die im
Juni 1941 in eine "unbekannte Anstalt“ verlegt wurde,
findet sich ein mit dem Vermerk
"
Landes-Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein b. Pirna" gestempeltes Formular.
Dieser Zufallsfund macht es wahrscheinlich, dass der betreffende Transport Obrawalde mit dem Ziel
Sonnenstein verließ. Eine Bestätigung erfährt diese Vermutung
durch eine Zeugenaussage im
Dresdener "Euthanasie-Prozess" von
1947:
"
Am 25. Juni 1941 wurde meine Schwester aus der "Heil-
und Pflegeanstalt" Obrawalde auf geheimnisvolle Weise durch einen Transport-Omnibus, (...) zusammen
mit noch 15 anderen Patientinnen derselben Anstalt entführt. (...) Am 7. Juli
erfuhren wir plötzlich durch eine Zuschrift der Heil- und Pflegeanstalt
Sonnenstein bei Pirna, dass sie daselbst am
5. Juli 1941 angeblich an Hirnschlag verstorben sei und die Leiche im Krematorium der
Anstalt verbrannt sei."
Im
August 1941 wurde die Aktion T4 offiziell beendet;
1942 begann die Umstellung der Anstalt Obrawalde
in eine Stätte systematischer Krankenmorde. Die Tötungen erfolgten vor allem durch überdosierte
Schmerz- bzw. Beruhigungsmittel, die Kranken starben aber auch infolge vorsätzlich herbeigeführter
Erschöpfungszustände und chronischer Unterernährung. Gleichzeitig wurde die systematische Ausbeutung der
Arbeitskraft der Patienten forciert. Erstes äußeres Merkmal des Wandels war
Ende 1941 die Einsetzung
des "Wirtschaftlichen Direktors“
Walter Grabowski, der sich schon bald in
wohl bewusster Verkürzung zum "Direktor" der Anstalt machte. Seine Anstellung erfolgte auf direkte Anordnung
des Gauleiters
Schwede-Coburg.
Grabowski, Kriegsfreiwilliger von
1914,
gehörte von
1918 - 1920 einem Freikorps an. Nach verschiedenen kurzzeitigen
Beschäftigungen wurde er arbeitslos und fasste erst
1936 als hauptamtlicher
Kreisleiter der NSDAP zunächst in
Schlawe/Pommern, dann in
Greifenhagen wieder Fuß. In den Monaten
Oktober 1939 bis Januar 1940 fungierte er im "Reichsgau Wartheland“ als
"Bürgermeister in
Kalisch", und von
Januar 1940 bis November 1941, dem Zeitpunkt der Einstellung in Obrawalde, war er in
einem "Sonderkommando" tätig. Nach Aussage seiner Frau war er bei der "Zentralstelle für
Krankenverlegungen" in
Kosten (heute
Koscian in Polen), wo die Krankenmorde im besetzten Polen, die deutsche
und polnische Patienten gleichermaßen betrafen, bürokratisch abgewickelt, also nachträglich
medizinisch und standesamtlich "in Ordnung" gebracht wurden.
Die ärztliche Leitung in Obrawalde hatte seit
November 1941 der reaktivierte Dr.
Vollheim inne. Da er nicht
bereit war, an der Krankenmord-Aktion teilzunehmen, gab er im
August 1942 seine
Tätigkeit als ärztlicher Leiter der Anstalt auf. An seine Stelle trat der Medizinalrat Dr.
Mootz.
Vollheim blieb jedoch
bis
1945 Arzt auf der Männerabteilung. Er soll von russischem Militär
festgenommen worden sein; mit
dem
31.12.1945 wurde er für tot erklärt.
Vollheims Nachfolger,
Theophil Mootz,
war ebenfalls reaktivierter Pensionär. Er ordnete sich
Grabowski
völlig unter und besorgte die medizinisch-technische
Abwicklung der Krankenmorde. Er nahm die Selektion der Opfer vor und zeichnete später in den
Krankengeschichten die angebliche Todesursache ab. Die Giftinjektionen tätigten in seinem Auftrag einige
ausgewählte Pflegerinnen und Pfleger. Auch
Mootz soll
1945 von russischen Militärs verhaftet worden sein
und wurde für tot erklärt. Zuständig für die Frauenseite und auch für die Kinderabteilung
war die Oberärztin
Hilde Wernicke, die nach dem Krieg in
Berlin hingerichtet wurde.
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Friedhof #1 |
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Friedhof #2 |
Die Tötungen von Patienten in Obrawalde begannen wahrscheinlich im
späten Sommer 1942, unmittelbar nach der Bestellung von Dr.
Mootz zum ärztlichen Leiter. Aus Krankengeschichten der
"Berliner Wittenauer Heilstätten" lassen sich als früheste Fälle drei am
22. Juli 1942 nach Obrawalde
verlegte Patienten nachweisen, die dort am
4., 5. und 10. August 1942 starben,
zwei am
28. September 1942 verlegte Patienten starben am
3. Oktober des Jahres. Der eigentliche Mord, wie er in der Folgezeit
vieltausendfach in den sogenannten Sterbestübchen vollzogen wurde, wurde von einer Krankenschwester
so beschrieben: "Ich begleitete die Kranke in das Behandlungszimmer, nahm aus einer Tüte drei
Esslöffel Veronal, löste es in einem Glas Wasser und gab es der Kranken zu trinken. Wenn sich die
Kranke widersetzte, musste man eine dünne Sonde anwenden. Gelegentlich gab es dabei Nasenbluten.“
Für die Männerabteilung berichtete ein Pfleger, dass Kranke in das Todeszimmer gerufen wurden,
dort eine Injektion mit einer Überdosis Morphium oder Scopolamin in den Oberschenkel erhielten
und dann "schnell starben".
Die benötigten Arzneien bezog die Anstalt von der "Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“,
einer der Tarngesellschaften der offiziell eingestellten Aktion T4, die tatsächlich weiterhin aktiv war.
Ausdrücklich waren Anstaltsleiter von dort aus ermutigt worden, in ihren Wirkungsbereichen die
"Arbeit", also den Patientenmord, fortzusetzen.
Ein weiteres Kennzeichen der Anstaltswirklichkeit in Obrawalde war die Ausbeutung der Arbeitskraft
der Patienten. Als Beispiel soll hier nur ein Außenkommando männlicher Patienten dienen,
dessen Mitglieder bei unzureichender Ernährung Rodungs- und Sümpfungsarbeiten zu leisten hatten.
Unrühmliche Erwähnung findet dabei der Oberpfleger
Schmidt
("Revolver-Schmidt"), dessen "Verdienste“ sich in der Sprache der Täter so lesen:
"Der Pfleger (...) hat die Aufsicht über die (...) Verwahrungskranken. Er beaufsichtigt diese Kolonne -
etwa 120 Mann - bei der Außenarbeit. Durch seinen persönlichen Einsatz und seine Haltung ist es ihm
gelungen, die Kranken nicht nur ordnungsmäßig einzusetzen, sondern ihre Arbeitskraft voll und
ganz auszunutzen. (...) Es sind allein an Erdarbeiten etwa 40.000 m
3 Erde bewegt worden.“
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Ausgrabungen #1 |
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Ausgrabungen #2 |
Vorwiegend aus dem Rheinland und Westfalen, aus
Berlin, Hamburg und
Bremen trafen auf dem
anstaltseigenen Gleis meist spätabends Krankentransporte in
Obrawalde ein. Nicht arbeitsfähige Patienten wurden innerhalb weniger Tage umgebracht, um Platz für
weitere Transporte zu schaffen. Die zunächst noch arbeitsfähigen Patienten überlebten, solange
sie ihre Arbeitskraft erhalten konnten.
Die Gesamtzahl der in Obrawalde getöteten Patienten ist nicht mehr exakt zu ermitteln. Nach
zurückhaltender Berechnung eines polnischen Wissenschaftlers summieren sich die Sterbefälle
zwischen dem 1. Januar 1942 und dem 28. Januar
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Mahnmal #1 |
1945 auf 6.991.
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Mahnmal #2 |
Durch vorsätzlich herbeigeführte Überbelegung und personelle sowie materielle Unterversorgung
wurde in der Anstalt Obrawalde eine Situation herbeigeführt, die es Ärzten und Pflegern erleichterte,
vor den Konsequenzen der Verlegungen "in die Anstalten des Ostens" oder in die "unbekannten Anstalten“
der Aktion T4 die Augen zu verschließen, eine Verantwortung dafür abzulehnen oder diese
tatsächlich als Erlösung der Kranken zu verstehen. Eine weitere Radikalisierung erfuhr diese Entwicklung
im Verlauf des Krieges. Als Ergebnis einer Reihe von im einzelnen durchaus als zweckrational nachvollziehbaren
Entscheidungen ergab sich für die Ärzte und Pfleger eine Situation, die die Tötung der angeblich
unheilbar Kranken und unnützen Esser zwingend von ihnen zu verlangen schien. Die schleichende
Erosion ihrer standes- und allgemein-ethischen Grundlagen hatte - begünstigt durch die NS-Propaganda -
bereits mit den Zwangssterilisationen in der Vorkriegszeit, den Selektionen für die Transporte in den
Osten und in die T4-Anstalten begonnen. Die Angst vor persönlichen Nachteilen und falsch verstandenes
Pflichtgefühl verstärkten die Neigung, den Scheinargumenten der Gnadentod-Propagandisten
nachzugeben, dies, zumal die Zustände in der Anstalt durch den ständig zunehmenden Druck der
regelmäßig eintreffenden Patienten-Transporte zunehmend unerträglich wurden. Trotz massiven
Drucks haben jedoch nicht alle Ärzte und Pfleger den Schritt zur aktiven Tötung von Patienten vollzogen.
Weiterführende Literatur:
Thomas Beddies:
Die Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde im Dritten Reich. In: Kristina Hübener
(Hg.): Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit (Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte
des Landes Brandenburg 3), Berlin 2002, S. 231-258.
Christina Härtel:
Transporte in den Tod, in: "Totgeschwiegen. 1933-1945. Zur Geschichte der Wittenauer
Heilstätten; seit 1957 Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik", hrsg. von der Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte
der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, 2. erw. Aufl. Berlin 1989, S. 191-206.
Herbert Henck:
Norbert von Hannenheims Todestag. Neue Erkenntnisse über das Schicksal des
siebenbürgischen Komponisten in Meseritz-Obrawalde, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart.
Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2003, S. 109–135. (vgl. auch:
http://www.herbert-henck.de/Internettexte/Obrawalde_I/obrawalde_i.html; letzter Zugriff: 25.8.2006)
Quelle:
Dr. Thomas Beddies
© ARC 2006