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Die pommersche Landesheilanstalt Obrawalde im brandenburgischen Kreis Meseritz 1939-1945

Letztes Update 2. September 2006





Meseritz Map
Karten
Obrawalde Aerial Photo
Luftbild
Die Fürsorge für Geisteskranke war in Preußen Aufgabe der aus ständischen Vorformen hervorgegangenen Provinzialverbände. Die Geschäfte eines Verbandes wurden durch den Provinzialausschuss als Beschluß- und den Landeshauptmann als Ausführungsorgan wahrgenommen. Die Staatsaufsicht übte ein Oberpräsident aus. Durch Gesetz vom 17. Dezember 1933 wurden die Selbstverwaltungsaufgaben - auch die Geisteskrankenfürsorge - dem Oberpräsidenten übertragen. Der Landeshauptmann wurde dem Oberpräsidenten in den Angelegenheiten des Provinzialverbandes unterstellt. Stärker noch als durch diese Zuständigkeitserweiterungen wurde der Charakter des Oberpräsidenten-Amtes durch die Verquickung mit der Parteigewalt der Gauleiter verändert. Die in allen Provinzen vollzogene Personalunion zwischen den Gauleitern der NSDAP und den Oberpräsidenten (in Pommern 1934) ermöglichte es diesen, einen von der Zentralgewalt weitgehend unabhängigen Machtapparat aufzubauen. Weiteren Machtzuwachs erfuhren die Oberpräsidenten/Gauleiter, als mit Kriegsbeginn den Wehrkreisen ein ziviler Vertreter zugeordnet wurde, der die inneren Kriegsanstrengungen koordinieren sollte. Als sogenannte Reichsverteidigungskommissare wurden ausschließlich Gauleiter eingesetzt. Da sich – je angespannter die Kriegslage wurde, um so mehr – jede denkbare Verwaltungsaufgabe unter dem Aspekt der Reichsverteidigung betrachten und für kriegswichtig erklären ließ, konnten die Befugnisse der Reichsverteidigungskommissare von diesen zunehmend extensiv ausgelegt werden.
So spielten die Reichsverteidigungskommissare auch eine maßgebliche Rolle bei der Verlegung von Patienten der Heil- und Pflegeanstalten. Unter dem Vorwand der Räumung für kriegswichtige Zwecke oder der Evakuierung aus bombengefährdeten Gebieten fanden in ihrem Auftrag zahlreiche Transporte von Geisteskranken in die Vernichtungsanstalten der "Aktion T4" statt. Reichsverteidigungkommissar für den Wehrkreis II war der Oberpräsident der Provinz und der Gauleiter des Gaues Pommern, Franz Schwede-Coburg.

Obrawalde Main Entrance
Haupteingang
Meseritz-Obrawalde
Meseritz-Obrawalde #1
Die "Provinzial-Irrenanstalt Obrawalde bei Meseritz" war 1904 als vierte Irrenanstalt der preußischen Provinz Posen eröffnet worden und lag kaum zwei Kilometer von der Kreisstadt Meseritz entfernt im Westen der Provinz. Als die Existenz der Provinzen Posen und Westpreußen durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages am 10. Januar 1920 endete, wurden ihre Restgebiete, darunter der verkleinerte Landkreis Meseritz mit der Heilanstalt, 1922 in der neuen Provinz "Grenzmark Posen-Westpreußen“ zusammengefasst. Einzige Heil- und Pflegeanstalt der Provinz war Obrawalde. Bei der Auflösung der "allen rationalen Verwaltungsgrundsätzen“ widersprechenden Provinz kam der ganz überwiegende Teil 1938 als Regierungsbezirk Posen-Westpreußen an Pommern, der Kreis Meseritz an Brandenburg; die Landesanstalt Obrawalde, obwohl jetzt auf brandenburgischem Gebiet liegend, wurde ebenfalls dem Provinzialverband Pommern zugeschlagen.
Meseritz-Obrawalde
Meseritz-Obrawalde #2
Patients
Patienten
Damit übernahm Pommern eine moderne, leistungsfähige Einrichtung, die damals noch über acht Abteilungen verfügte: neben der Heil- und Pflegeanstalt gab es ein Altersheim, eine Frauenklinik und eine Kleinkinderabteilung, eine orthopädische, innere und neurologische Abteilung sowie eine Lungenheilstätte. Nachdem die Frage der künftigen Nutzung der Krankenanstalten zunächst durchaus unentschieden gewesen war, hieß es im Frühsommer 1939: "Nachdem sich in Verhandlungen mit der Stadt Berlin die Gelegenheit geboten hatte, die Anstalt mit Geisteskranken aus Berlin voll zu belegen, ist sie jetzt eine reine Heilanstalt für Geisteskranke geworden.“

Dormitory
Schlafsaal
Die Wiederumwandlung Obrawaldes in eine Anstalt für psychisch Kranke war nur eine erste Maßnahme zur Neuordnung der Geisteskrankenfürsorge in Pommern. Am 13.12.1941 berichtete Schwede-Coburg der Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten zusammenfassend, dass die Anstalten in Lauenburg (990 Betten), in Stralsund (1.150 Betten) und Stettin-Kückenmühle (1.500 Betten) an die Waffen-SS abgegeben seien und die Anstalt Treptow/Rega (980 Betten) als Reserve-Lazarett diene. 3.720 Betten waren so freigeräumt worden. Bereits im Haushalt des Provinzialverbandes für 1940 heißt es: "Weitere Veränderungen ergaben sich insofern, als nach dem Abschluss des polnischen Feldzuges aus den pommerschen Anstalten über 2.300 Geisteskranke außerhalb der Provinz untergebracht werden konnten. Die "Unterbringung“ dieser 2.300 Geisteskranken in den eroberten polnischen Gebieten ist als Tarnbezeichnung einer frühen, auf Pommern und die Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland beschränkten Krankenmord-Aktion zu verstehen. Die in den Reichsgau Danzig-Westpreußen und in den Warthegau transportierten Kranken wurden zwischen Oktober 1939 und Januar 1940 von SS-Kommandos erschossen oder mittels Gaswagen ermordet. An diesen Aktionen soll der spätere Direktor der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde, Walter Grabowski, beteiligt gewesen sein.

Children's Ward
Kinderabteilung
Zeitlich mit dieser ersten Mordaktion sich überlappend begann Ende 1939 die zentral von der Berliner Tiergartenstraße 4 aus gesteuerte Aktion zur Ermordung von mindestens 70.000 psychisch kranken und geistig behinderten Menschen. Unter den vor einiger Zeit in einem Archiv des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (DDR) aufgefundenen und jetzt im Bundesarchiv Berlin befindlichen Krankengeschichten psychiatrischer Patienten, die im Zuge dieser Aktion in den Jahren 1940/41 ermordet wurden, befindet sich auch ein 167 Einzelakten umfassender Bestand, der der Anstalt Obrawalde zugeordnet wurde. Es kann als sicher angenommen werden, dass die Zahl der erhaltenen Akten nicht annähernd der Gesamtzahl der im Zuge der Aktion ermordeten Obrawalder Patienten entspricht; diese dürfte weitaus höher liegen. Fast immer findet sich als letzter Eintrag in den Krankengeschichten: "Verlegt in eine andere Anstalt", was als Tarnbezeichnung für die Verlegung in eine der Tötungsanstalten der Aktion T4 zu verstehen ist.
In der Akte einer Patientin, die im Juni 1941 in eine "unbekannte Anstalt“ verlegt wurde, findet sich ein mit dem Vermerk "Landes-Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein b. Pirna" gestempeltes Formular. Dieser Zufallsfund macht es wahrscheinlich, dass der betreffende Transport Obrawalde mit dem Ziel Sonnenstein verließ. Eine Bestätigung erfährt diese Vermutung durch eine Zeugenaussage im Dresdener "Euthanasie-Prozess" von 1947:
"Am 25. Juni 1941 wurde meine Schwester aus der "Heil- und Pflegeanstalt" Obrawalde auf geheimnisvolle Weise durch einen Transport-Omnibus, (...) zusammen mit noch 15 anderen Patientinnen derselben Anstalt entführt. (...) Am 7. Juli erfuhren wir plötzlich durch eine Zuschrift der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein bei Pirna, dass sie daselbst am 5. Juli 1941 angeblich an Hirnschlag verstorben sei und die Leiche im Krematorium der Anstalt verbrannt sei."

Im August 1941 wurde die Aktion T4 offiziell beendet; 1942 begann die Umstellung der Anstalt Obrawalde in eine Stätte systematischer Krankenmorde. Die Tötungen erfolgten vor allem durch überdosierte Schmerz- bzw. Beruhigungsmittel, die Kranken starben aber auch infolge vorsätzlich herbeigeführter Erschöpfungszustände und chronischer Unterernährung. Gleichzeitig wurde die systematische Ausbeutung der Arbeitskraft der Patienten forciert. Erstes äußeres Merkmal des Wandels war Ende 1941 die Einsetzung des "Wirtschaftlichen Direktors“ Walter Grabowski, der sich schon bald in wohl bewusster Verkürzung zum "Direktor" der Anstalt machte. Seine Anstellung erfolgte auf direkte Anordnung des Gauleiters Schwede-Coburg.
Grabowski, Kriegsfreiwilliger von 1914, gehörte von 1918 - 1920 einem Freikorps an. Nach verschiedenen kurzzeitigen Beschäftigungen wurde er arbeitslos und fasste erst 1936 als hauptamtlicher Kreisleiter der NSDAP zunächst in Schlawe/Pommern, dann in Greifenhagen wieder Fuß. In den Monaten Oktober 1939 bis Januar 1940 fungierte er im "Reichsgau Wartheland“ als "Bürgermeister in Kalisch", und von Januar 1940 bis November 1941, dem Zeitpunkt der Einstellung in Obrawalde, war er in einem "Sonderkommando" tätig. Nach Aussage seiner Frau war er bei der "Zentralstelle für Krankenverlegungen" in Kosten (heute Koscian in Polen), wo die Krankenmorde im besetzten Polen, die deutsche und polnische Patienten gleichermaßen betrafen, bürokratisch abgewickelt, also nachträglich medizinisch und standesamtlich "in Ordnung" gebracht wurden.

Die ärztliche Leitung in Obrawalde hatte seit November 1941 der reaktivierte Dr. Vollheim inne. Da er nicht bereit war, an der Krankenmord-Aktion teilzunehmen, gab er im August 1942 seine Tätigkeit als ärztlicher Leiter der Anstalt auf. An seine Stelle trat der Medizinalrat Dr. Mootz. Vollheim blieb jedoch bis 1945 Arzt auf der Männerabteilung. Er soll von russischem Militär festgenommen worden sein; mit dem 31.12.1945 wurde er für tot erklärt. Vollheims Nachfolger, Theophil Mootz, war ebenfalls reaktivierter Pensionär. Er ordnete sich Grabowski völlig unter und besorgte die medizinisch-technische Abwicklung der Krankenmorde. Er nahm die Selektion der Opfer vor und zeichnete später in den Krankengeschichten die angebliche Todesursache ab. Die Giftinjektionen tätigten in seinem Auftrag einige ausgewählte Pflegerinnen und Pfleger. Auch Mootz soll 1945 von russischen Militärs verhaftet worden sein und wurde für tot erklärt. Zuständig für die Frauenseite und auch für die Kinderabteilung war die Oberärztin Hilde Wernicke, die nach dem Krieg in Berlin hingerichtet wurde.

Cemetery
Friedhof #1
Cemetery
Friedhof #2
Die Tötungen von Patienten in Obrawalde begannen wahrscheinlich im späten Sommer 1942, unmittelbar nach der Bestellung von Dr. Mootz zum ärztlichen Leiter. Aus Krankengeschichten der "Berliner Wittenauer Heilstätten" lassen sich als früheste Fälle drei am 22. Juli 1942 nach Obrawalde verlegte Patienten nachweisen, die dort am 4., 5. und 10. August 1942 starben, zwei am 28. September 1942 verlegte Patienten starben am 3. Oktober des Jahres. Der eigentliche Mord, wie er in der Folgezeit vieltausendfach in den sogenannten Sterbestübchen vollzogen wurde, wurde von einer Krankenschwester so beschrieben: "Ich begleitete die Kranke in das Behandlungszimmer, nahm aus einer Tüte drei Esslöffel Veronal, löste es in einem Glas Wasser und gab es der Kranken zu trinken. Wenn sich die Kranke widersetzte, musste man eine dünne Sonde anwenden. Gelegentlich gab es dabei Nasenbluten.“ Für die Männerabteilung berichtete ein Pfleger, dass Kranke in das Todeszimmer gerufen wurden, dort eine Injektion mit einer Überdosis Morphium oder Scopolamin in den Oberschenkel erhielten und dann "schnell starben".

Die benötigten Arzneien bezog die Anstalt von der "Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“, einer der Tarngesellschaften der offiziell eingestellten Aktion T4, die tatsächlich weiterhin aktiv war. Ausdrücklich waren Anstaltsleiter von dort aus ermutigt worden, in ihren Wirkungsbereichen die "Arbeit", also den Patientenmord, fortzusetzen.

Ein weiteres Kennzeichen der Anstaltswirklichkeit in Obrawalde war die Ausbeutung der Arbeitskraft der Patienten. Als Beispiel soll hier nur ein Außenkommando männlicher Patienten dienen, dessen Mitglieder bei unzureichender Ernährung Rodungs- und Sümpfungsarbeiten zu leisten hatten. Unrühmliche Erwähnung findet dabei der Oberpfleger Schmidt ("Revolver-Schmidt"), dessen "Verdienste“ sich in der Sprache der Täter so lesen:
"Der Pfleger (...) hat die Aufsicht über die (...) Verwahrungskranken. Er beaufsichtigt diese Kolonne - etwa 120 Mann - bei der Außenarbeit. Durch seinen persönlichen Einsatz und seine Haltung ist es ihm gelungen, die Kranken nicht nur ordnungsmäßig einzusetzen, sondern ihre Arbeitskraft voll und ganz auszunutzen. (...) Es sind allein an Erdarbeiten etwa 40.000 m3 Erde bewegt worden.“

Excavations
Ausgrabungen #1
Excavations
Ausgrabungen #2
Vorwiegend aus dem Rheinland und Westfalen, aus Berlin, Hamburg und Bremen trafen auf dem anstaltseigenen Gleis meist spätabends Krankentransporte in Obrawalde ein. Nicht arbeitsfähige Patienten wurden innerhalb weniger Tage umgebracht, um Platz für weitere Transporte zu schaffen. Die zunächst noch arbeitsfähigen Patienten überlebten, solange sie ihre Arbeitskraft erhalten konnten.
Die Gesamtzahl der in Obrawalde getöteten Patienten ist nicht mehr exakt zu ermitteln. Nach zurückhaltender Berechnung eines polnischen Wissenschaftlers summieren sich die Sterbefälle zwischen dem 1. Januar 1942 und dem 28. Januar
Memorial #2
Mahnmal #1
1945
auf 6.991.

Memorial #1
Mahnmal #2
Durch vorsätzlich herbeigeführte Überbelegung und personelle sowie materielle Unterversorgung wurde in der Anstalt Obrawalde eine Situation herbeigeführt, die es Ärzten und Pflegern erleichterte, vor den Konsequenzen der Verlegungen "in die Anstalten des Ostens" oder in die "unbekannten Anstalten“ der Aktion T4 die Augen zu verschließen, eine Verantwortung dafür abzulehnen oder diese tatsächlich als Erlösung der Kranken zu verstehen. Eine weitere Radikalisierung erfuhr diese Entwicklung im Verlauf des Krieges. Als Ergebnis einer Reihe von im einzelnen durchaus als zweckrational nachvollziehbaren Entscheidungen ergab sich für die Ärzte und Pfleger eine Situation, die die Tötung der angeblich unheilbar Kranken und unnützen Esser zwingend von ihnen zu verlangen schien. Die schleichende Erosion ihrer standes- und allgemein-ethischen Grundlagen hatte - begünstigt durch die NS-Propaganda - bereits mit den Zwangssterilisationen in der Vorkriegszeit, den Selektionen für die Transporte in den Osten und in die T4-Anstalten begonnen. Die Angst vor persönlichen Nachteilen und falsch verstandenes Pflichtgefühl verstärkten die Neigung, den Scheinargumenten der Gnadentod-Propagandisten nachzugeben, dies, zumal die Zustände in der Anstalt durch den ständig zunehmenden Druck der regelmäßig eintreffenden Patienten-Transporte zunehmend unerträglich wurden. Trotz massiven Drucks haben jedoch nicht alle Ärzte und Pfleger den Schritt zur aktiven Tötung von Patienten vollzogen.

Weiterführende Literatur:
Thomas Beddies: Die Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde im Dritten Reich. In: Kristina Hübener (Hg.): Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit (Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte des Landes Brandenburg 3), Berlin 2002, S. 231-258.

Christina Härtel: Transporte in den Tod, in: "Totgeschwiegen. 1933-1945. Zur Geschichte der Wittenauer Heilstätten; seit 1957 Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik", hrsg. von der Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, 2. erw. Aufl. Berlin 1989, S. 191-206.

Herbert Henck: Norbert von Hannenheims Todestag. Neue Erkenntnisse über das Schicksal des siebenbürgischen Komponisten in Meseritz-Obrawalde, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2003, S. 109–135. (vgl. auch: http://www.herbert-henck.de/Internettexte/Obrawalde_I/obrawalde_i.html; letzter Zugriff: 25.8.2006)

Quelle:
Dr. Thomas Beddies

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