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Ghettos * |
Bereits im frühen Mittelalter trennte man jüdische Wohnbezirke vom Rest der Bevölkerung. Das beruhte
auf einem gewissen theologischen und ökonomischen Antisemitismus, der auf die Beschränkung der Kontakte
zwischen Juden und Christen zielte. Hier und da hatten Juden auch die Tendenz, aus religiösen, sozialen und
kulturellen Gründen eng beieinander zu wohnen, was sie nicht von anderen religiösen oder ethnischen
Minderheiten unterscheidet.
Die ersten Ghettos entstanden im 13. Jahrhundert in Deutschland, Spanien und Portugal. Im mittelalterlichen
Zentraleuropa gab es Ghettos z.B. in
Prag, Frankfurt am Main und Mainz.
Im 16. Jahrhundert befand sich das Ghetto von
Venedig auf dem Gelände
einer ehemaligen Eisengießerei (italienisch:
getto).
Hinsichtlich des Ursprungs des Begriffes wurden noch andere Ausdrücke herangezogen:
"Ghetonia" - ein Griko-Wort für Nachbarschaft (Griko ist ein alter griechischer Dialekt, der in der Region
Grecia Salentina in Apulien (Süd-Italien) gesprochen wurde)
"borghetto" - bedeutet "kleine Nachbarschaft" auf italienisch
"get" - "Scheidungsurkunde" in hebräisch.
Im Zeitalter der Aufklärung und der sozialen Wandlungen in Folge der Französischen Revolution wurden die
Ghettos teilweise aufgelöst.
Bis 1861 gab es in Polen besondere jüdische Wohnbezirke, sogenannte
"jüdische Städte". Die Juden durften nur dort und in den Vororten wohnen, nicht aber innerhalb der
Stadtmauern, der "christlichen Stadt". Den Juden war es erlaubt, mit Christen zu handeln und kleine Läden
in der "christlichen Stadt" zu mieten, z.B. in
Krakow (Krakau), Warszawa (Warschau),
Vilnius (Wilna), Lublin und Lviv (Lwow). In kleineren Provinzstädten, die oft im Besitz des Adels
waren, durften Juden nie im christlichen Teil der Stadt wohnen.
Unter der Nazi-Herrschaft entstanden dann schließlich die berüchtigten, meist abgeschlossenen
Hunger-Ghettos vorwiegend im Osten Europas, wo es bis
1939 keine
derartigen Wohnbezirke gegeben hatte.
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Glogow Malopolski |
Radikalere Nazis strebten die Schaffung von Ghettos in Deutschland und Österreich an, was jedoch schließlich
verworfen wurde. Stattdessen mussten Juden in sogenannte "Judenhäuser" ziehen, was im Vergleich zu den
Bedingungen in den späteren Ghettos etwas mehr Freiheiten erlaubte.
Mit der deutschen Invasion in Polen entstanden die ersten Judenghettos des 20. Jahrhunderts. Ihre Einrichtung
beruhte auf einem Befehl
Reinhard Heydrichs an die Chefs der
Einsatzgruppen in Polen vom
21. September 1939, in dem er u.a. sagte:
"
Vorläufig ist die erste Voraussetzung für das Endziel die Konzentration der
Juden vom Lande in größeren Städten."
Auf einer Konferenz in
Berlin am selben Tag hatte er erklärt, dass die
Konzentration in Ghettos zu geschehen hätte um "eine bessere Kontrollmöglichkeit und die spätere
Deportation" sicher zu stellen. Es sollte so wenig "Konzentrationszentren" wie möglich geben, und es sollten nur
Städte mit einem guten Bahnanschluss ausgesucht werden. Von Anfang an waren die Ghettos nur als eine
vorübergehende Lösung für das von den Nazis so genannte "jüdische Problem" gedacht.
Heydrichs Anweisungen machten dies deutlich: Er unterschied zwischen dem
"Endziel", das einen längeren Zeitraum benötigte, und den dazu notwendigen, schneller zu
vollziehenden Einzelschritten. Die Einrichtung von Ghettos waren Teil der Einzelmaßnahmen. Das "Endziel"
war zu dieser Zeit noch nicht genau definiert.
Die Ghettos wurden von Deutschen verwaltet. Über die "Transferstellen" der Ghettoverwaltungen wurden die
Ghettobewohner unterhalten und gleichzeitig ausgebeutet. Manche Verwaltungschefs sahen ihre Aufgabe darin,
die Ghettobewohner nach Erpressung ihrer Wertsachen zu eliminieren. In
Lodz (von den Nazis in
Litzmannstadt
umbenannt) im "Warthegau" (von den Nazis annektiertes polnisches Gebiet) erklärte
Alexander Palfinger, Stellvertreter von
Hans
Biebow, dem Chef der Ghettoverwaltung:
"
Das schnelle Aussterben der Juden ist für uns völlig unbedeutend, wenn nicht sogar
wünschenswert, solange die Begleiteffekte das öffentliche Interesse in Deutschland nicht beeinflussen,
da ja, wie auch immer, diese Leute in Übereinstimmung mit den Anweisungen des Reichsführers-SS
den Staatsinteressen dienen sollen; die einfachsten Bedingungen müssen dafür geschaffen werden."
Andere Ghettochefs sahen in den eingesperrten Juden vorwiegend ein kostenloses Reservoir von Arbeitskraft.
Die Juden würden autark sein oder sogar eine Gewinnquelle. Im Gegensatz zu
Palfinger sagte
Walter Emmerich,
Leiter der Wirtschaftsabteilung des Generalgouvernements, in
Warschau:
"
Ausgangspunkt aller wirtschaftlichen Maßnahmen muss der Gedanke sein, den Juden die
Möglichkeit zum Leben zu geben. Die Frage ist, ob man dieses Problem in einer produktiven Weise lösen
kann, was bedeutet, dass man so viel Arbeit für das Ghetto schafft und so viel aus dem Ghetto heraus holt,
dass ein Gleichgewicht entsteht."
Beide Ansätze haben gemeinsam, dass die Juden keine finanzielle Last für das "Reich" werden sollten.
Mit der Zeit setzte sich in vielen Ghettos die ausbeuterische Sichtweise durch, und die Arbeitskraft der Juden
wurde eine unentbehrliche, wenn auch vorübergehende Komponente der deutschen Kriegswirtschaft
(siehe auch
Wirtschaftliche Aspekte der Aktion Reinhard).
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Versammelt zur Zwangsarbeit |
Dieselben wirtschaftlichen Aspekte durchzogen die gesamte antisemitische Nazipolitik. Für den Völkermord
gab es kein Budget im Staatshaushalt. Die Juden mussten ihre eigene Vernichtung finanzieren. Im "Reich" konnte
man emigrieren, allerdings nur gegen Bezahlung. In den Ghettos wurden die Insassen gezwungen, die sie
umgebenden Zäune und Mauern selbst zu bezahlen, wie auch das Essen, Brennstoffe und Medizin; wohl auch die
Fahrkosten der Züge, die sie in die Vernichtungslager brachten. Juden wurde das Recht genommen, sich und ihre
Familien durch bezahlte Arbeit ernähren zu können. Nun mussten sie die eventuell noch vorhandenen
Wertsachen zum Lebensunterhalt verwerten oder für einen Hungerlohn arbeiten.
Heydrich hatte angeordnet, dass die Ghettos schon 3 - 4 Wochen nach der
Invasion eingerichtet sein sollten. Das war allerdings zeitlich nicht einzuhalten. Bereits am
8. Oktober 1939 wurde der Befehl erteilt, ein Ghetto in
Piotrkow Trybunalski einzurichten, was später allerdings wegen
diverser Probleme als unbefriedigend im Sinne der Nazis angesehen wurde.
Ein anderes frühes Ghetto wurde
Ende November 1939 in
Pulawy (Distrikt
Lublin) eingerichtet,
allerdings schon wenig später liquidiert und dessen Insassen auf andere Städte verteilt, vorwiegend
nach
Opole Lubelskie.
Das erste länger existierende Ghetto wurde im
Dezember 1939 oder
Januar 1940 in
Tuliszkow geschaffen.
Danach wurden Ghettos nur langsam eingerichtet -
Lodz
im
April 1940,
Warschau im
Oktober 1940,
Krakau im
März 1941 und
Lublin im
April 1941. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion und der Einverleibung
Galiziens in das Generalgouvernement wurde im
Dezember 1941 ein Ghetto in
Lwow eingerichtet.
Ende 1941 war die Ghettoisierung im Generalgouvernement so gut wie abgeschlossen.
Basierend auf den Erfahrungen mit polnischen Ghettos richteten die Nazis nun auch Ghettos in den eroberten
Gebieten der Sowjetunion ein. Die letzten Ghettos in Weißrussland wurden allerdings erst im
Mai 1942 installiert, fast ein Jahr nach der Besetzung, und als bereits Tausende
von weißrussischen Juden ermordet worden waren.
Die Juden wurden aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen, in verschiedene Städte deportiert, in einen
ausgewiesenen Bezirk (Ghetto) geschickt und in fremde Wohnungen auf engstem Raum einquartiert wobei die dort
ansässige nicht-jüdische Bevölkerung vorher aus ihren Wohnungen geworfen worden war. All dies
brachte den Nazis mehr Probleme als erwartet.
Noch im
Sommer 1941 existierten Nazi-Pläne zur forcierten Ausweisung der Juden;
zuerst in die Umgebung von
Lublin, dann nach Madagaskar, dann
in die Weiten Russlands. Keiner dieser Pläne wurde verwirklicht; die "Endlösung der jüdischen Frage"
sollte auf andere, tödliche Weise vollzogen werden.
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Przemysl |
Sowohl die zeitliche Verwirklichung als auch die Struktur der Ghettos war inkonsequent. Es gab sowohl
abgeriegelte als auch offene Ghettos. In ländlichen Gebieten entstanden zahlreiche "Quasi-Ghettos". In
Mielniki bei
Sieniawa wurden z.B. einige
jüdische Familien auf einem Bauernhof untergebracht und in die Nähe zur Waldarbeit geschickt.
Die Leute waren unbewacht, wurden aber trotzdem im
Sommer 1942 ermordet und auf dem
Bauernhof begraben.
Einige jüdische Gemeinden (wie z.B. in
Szydlowiec) wurden in Ghettos
umgewandelt. Anderswo wurden überhaupt keine Ghettos eingerichtet. Wo jedoch welche errichtet wurden, gab es
eine Gemeinsamkeit: alle Ghettobezirke befanden sich in den ärmsten Stadtteilen. Die Häuser waren
baufällig und hatten oft nicht einmal Wasserleitungen oder Stromanschluss. Die Konzentration so vieler
Menschen auf so engem Raum bewirkte eine ungeheuer große Bevölkerungsdichte. In
Warschau waren 30% der Bevölkerung gezwungen, in 2,4% des Stadtgebietes
zu leben. Das Ghetto umfasste 172 ha, von denen 152 ha Wohngebiet waren. Die Deutschen veranschlagten 6 - 7 Personen
pro Wohnraum im Ghetto. Nachkriegsschätzungen gehen sogar von 9,2 Personen pro Raum aus, wobei sich bis zu
128.000 Menschen auf einem km
2 drängten.
Der zugewiesene Wohnraum im Ghetto von
Checiny belief sich auf
2 - 2,5 m
2 pro Person. Im kleinen Ghetto von
Odrzywol lebten
700 Menschen in einem Bereich, der vorher von 5 Familien bewohnt war, so dass sich zwischen 12 und 30 Personen
ein kleines Zimmer teilen mussten.
Warschau und
Lodz waren die beiden
größten Ghettos. In ihnen wurde fast ein Drittel aller polnischen Juden eingesperrt. Wegen der
Größe dieser Ghettos war hier der Mangel an Nahrungsmitteln größer als in anderen
Ballungsgebieten, wo die Juden z.T außerhalb des Ghettos arbeiteten und sich so Nahrung von der
einheimischen polnischen Bevölkerung besorgen konnten. Trotzdem waren Unterernährung und Krankheiten
auch hier an der Tagesordnung. Die Rationen wurden bewusst auf ein Maß begrenzt, das ein Überleben
praktisch unmöglich machte. Oft wurde gar keine Nahrung ins Ghetto geliefert und wenn doch, dann von der
niedrigsten Qualität bzw. ungenießbar. Nur der Schmuggel von Nahrung und anderen lebenswichtigen Dingen
ermöglichte das Überleben.
Hillel Chill Igielman (
Bialobrzegi Ghetto)
erinnerte sich:
"
Die einzige Möglichkeit etwas zu essen zu erhalten, war das Verlassen des Ghettos und der
Versuch, Bauernhöfe zu erreichen. Erwischten dich aber die Deutschen, wurdest du erschossen. Wir froren sehr, weil
wir kein Feuerholz bekommen konnten um das Haus zu heizen. So versuchten wir, nachts hinaus zu schleichen um
Holzzäune abzubrechen. Wärst du aber von den Deutschen geschnappt worden, hätten sie dich erschossen.
Die Deutschen wussten, dass Juden in benachbarte Dörfer flüchteten. Daher versprachen sie jedem Polen
zwei Pfund Zucker, der einen geflüchteten Juden verriet. Das heißt, dass nicht nur Deutsche Ausschau
hielten, sondern auch Polen, besonders jüngere."
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Betteln um Nahrung |
Während ein Befehl
Hitlers die polnische Bevölkerung auf dem
Existenzminimum hielt, wurde den Juden, die auf der untersten Stufe der Nazi Rassenideologie rangierten, nicht
einmal dies gewährt.
Lodz zeigt ein aufschlussreiches Beispiel. Im
Oktober 1940 wurde vorgeschlagen, die Juden nur mit Gefängniskost zu versorgen.
Einige Monate später kalkulierte der Buchprüfer, der die Listen der Ghetto-Verwaltung untersuchte,
dass pro Jude täglich 23 Pfennige für Nahrung ausgegeben worden waren, was noch weniger war als die
Hälfte der Kosten für Gefängniskost.
Im
Januar 1941 wurde die Lage so schlimm, dass Kartoffelreste, die als
Pferdefutter geliefert worden waren, in die Fabrikküchen umgeleitet wurden. In
berichtete der Militärkommandant am
20. Mai 1941:
"
Die Lage im jüdischen Wohnbezirk ist katastrofal. Die Leichen der Verhungerten
liegen in den Straßen. Die Sterberate, 80% durch Unterernährung, hat sich seit Februar verdreifacht.
Das einzige, was an die Juden ausgegeben wurde, waren 1,5 Pfund Brot pro Woche. Niemand konnte bisher
Kartoffeln liefern, für die der Judenrat mehrere Millionen im Voraus gezahlt hat..."
In den besetzten Gebieten der Sowjetunion war es nicht besser. Am
13. August 1941
befahl Reichskommissar
Hinrich Lohse in seiner Anordnung bezüglich der
Behandlung der Juden im Reichskommissariat Ostland:
"
Die Juden in den Ghettos dürfen nur so viel Nahrung erhalten wie der Rest der
Bevölkerung entbehren kann, jedoch nicht mehr als für ihre bloße Existenz erforderlich. Dasselbe
gilt für die Zuteilung anderer notwendiger Sachen."
Krankheiten und Epidemien grassierten in Folge der unhaltbaren Bevölkerungsdichte, ungenügenden
sanitären Verhältnissen (im
Ghetto Lodz hatten 95% der Wohnungen
keine sanitären Einrichtungen und keine Trink- oder Abwasserleitungen), fast vollständig fehlender
medizinischer Betreuung, fehlender Brennstoffe zum Heizen, einer Läuseplage sowie der permanenten Hungerrationen.
Im Ghetto von
Kutno, das die Deutschen "Krepierlager" nannten, starben
zwischen März und Dezember 1941 42% der Bevölkerung an Typhus. Die
Gesamtsterblichkeit war fast zehnmal höher als vor dem Krieg.
Am
16. Dezember 1941 schrieb
Wilhelm Kube,
Generalkommissar für Weißrussland, an
Lohse und wies darauf hin, dass
es in Weißrussland momentan 22 Epidemien aber kein Impfmaterial gab. Die Nazis hatten die Juden stets
als Seuchenüberträger dargestellt. Durch die von den Nazis geschaffenen Verhältnisse wurde diese
niederträchtige Behauptung nun traurige Realität.
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Czestochowa |
Wenngleich die Ghettoisierung langsam und uneinheitlich verlief, ging die Einrichtung von Judenräten
schnell und konsequent. Die Nazis hatten aus der Behandlung der Juden in Deutschland gelernt, dass die Einrichtung
von zentralen jüdischen Organisationen unabdingbar war für die Umsetzung von Befehlen und Anordnungen.
Heydrichs Anweisungen vom
21. September 1939
enthielten Einzelheiten zur geplanten Schaffung von Judenräten, möglichst aus "angesehenen
Persönlichkeiten und Rabbis".
Am
28. November 1939 ordnete
Hans Frank an, dass in Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern
der zu bildende Judenrat aus 12 Personen bestehen sollte, in Gemeinden mit über 10.000 Einwohnern aus 24.
Viele prominente Juden widerstrebten sich, dem Judenrat beizutreten. Das war nicht überraschend, denn wenn der
Judenrat irgendeine Autorität haben würde, beruhte diese doch nur auf der Macht der Deutschen. In
Grodno beschloss die jüdische Gemeinde, keine derartige Einrichtung zu
schaffen, weil dies nur die Durchsetzung der Unterdrückungspolitik erleichtern würde. Woanders war man
z.T. der Meinung, dass ein Judenrat die Unterdrückung mildern könne. Wo sich keine freiwilligen Mitglieder
fanden (z.B. in
Lwow), wählten die Deutschen die Mitglieder des Judenrates
einfach selbst aus. In
Tarnopol (Distrikt Galizien) mussten die ersten
Mitglieder dreimal neu ernannt werden, denn die ausgesuchten Juden waren den Deutschen nicht genehm. Fast alle von
ihnen, vorwiegend jüdische Vorkriegsaktivisten und Intellektuelle, wurden exekutiert.
Zu den ersten Aufgaben der Judenräte gehörten eine Zählung der jüdischen Einwohner. Ein
weiterer wichtiger Punkt war es, die Ablieferung von beschlagnahmtem Vermögen und Wertsachen zu gewährleisten
und Zwangsarbeiter bereit zu stellen. Bald war der Judenrat auch noch verantwortlich für die Essenversorgung,
die Unterbringung von Neuzugängen, die Arbeitsstellen, die Gesundheit im Ghetto und die Aufstellung einer
Ghetto-Polizei ("jüdischer Ornungsdienst"). Während der Liquidierung der Ghettos musste der Judenrat auch
noch die Listen der zu deportierenden Juden erstellen.
Zuerst wussten die Judenräte nichts über die wahre Bedeutung des Wortes "Umsiedlung", denn die Deutschen
betrieben eine sorgfältige Verschleierung der Tatsachen, vor und auch noch während der "Aktionen". In
Rejowiec beruhigte der Judenrat, versichert durch die Nazi-Stellen, die Leute
und sagte ihnen, dass ihnen nichts angetan werden würde. Wenige Stunden später musste der Judenrat die
Juden am Stadtrand zusammenrufen. Alle Juden wurden deportiert, außer dem Vorsitzenden des Judenrates.
Wo die Liquidation eines Ghettos nicht auf einmal vollzogen werden konnte, versicherten die Deutschen den Opfern
jedesmal, dass gerade dieser Transport der letzte sei.
Als sich schließlich doch Gerüchte über die Existenz von Vernichtungslagern verbreiteten, zahlten
viele Judenräte hohe Bestechungsgelder an Deutsche, um von den Deportationen verschont zu bleiben.
Manchmal konnte sogar ein Aufschub von wenigen Tagen oder Wochen erreicht werden, was allerdings das schreckliche
Schicksal letztlich nicht abwendete.
Der Zwang, für die Nazis die Deportationslisten zu erstellen, stellte die Judenräte vor ein unlösbares
Problem. Wenn sie es ablehnten Listen anzufertigen, würden die Deutschen selbst die Leute zufällig
und brutal auswählen. Weil es offensichtlich war, dass die Ghettos nicht gerettet werden konnten, beschlossen
viele Judenräte, die Jungen zu schützen. Diese hatten eine größere Überlebenschance als
die Alten, Kranken oder große Familien mit kleinen Kindern. Die mit dem Auswählen verbundenen Qualen
sind anschaulich dargestellt vom stellvertretenden Vorsitzenden des Judenrates im Ghetto von
Kovno (Kaunas):
"
Der Judenrat sah sich mit dem gleichzeitigen Problem von Gewissen und Verantwortung
konfrontiert... Es gab zwei Alternativen... Entweder einwilligen, den Gestapo-Befehl bekannt geben und entsprechende
Anweisungen an die Ghetto-Polizei geben oder den Befehl ignorieren und somit zu sabotieren. Der Judenrat meinte, dass
bei Befolgung der ersten Möglichkeit ein Teil oder vielleicht die Mehrheit des Ghettos zumindest für eine
gewisse Zeit gerettet werden könne. Die Wahl der anderen Möglichkeit hätte schwerwiegende Konsequenzen
für das gesamte Ghetto zur Folge, mit einer möglichen sofortigen Liquidierung."
So sahen sich die Judenräte mit einer zunehmenden Zahl schrecklicher Entscheidungen konfrontiert. Wer sollte
gerettet, wer geopfert werden? Die Mitglieder der Judenräte waren menschliche Wesen und daher auch der ganzen
Bandbreite zwischen Schwächen und Tugenden ausgesetzt. Manche arbeiteten mit den Deutschen zusammen, aus
Ehrgeiz oder zum persönlichen Vorteil, andere quälten sich mit vernünftigen Antworten auf irrationale
Fragen bzw. verwirkten ihr eigenes Leben um nicht zu Mordgehilfen zu werden. Ein Beispiel von vielen: Der
stellvertretende Vorsitzende des Judenrates im Ghetto von
Bilgoraj,
Hilel Janover, und drei andere Mitglieder,
Szymon Bin,
Shmuel Leib Olender und
Ephraim Waksszul, wurden am
3. Mai 1942 erschossen. Sie hatten sich geweigert, eine Liste für die Deportation
nach
Belzec anzufertigen.
Letztlich war es egal, ob man mit den Nazis kooperierte oder sich widersetzte. Nichts konnte die Judenräte oder
ihre Gemeinden vor der Vernichtung retten.
Die Zahl der Ghettobewohner änderte sich ständig, besonders in den Distrikten des Generalgouvernements
wie
Krakau, Radom und Lublin. Juden wurden von kleineren Gemeinden in die
großen Ghettos gebracht, trafen aus anderen Regionen Polens ein, und schließlich, als die Vernichtungslager
ihren Betrieb aufnahmen und die Ghettos leerten, wurden auch die Juden aus anderen europäischen Staaten
in die Ghettos gebracht. Ein beeindruckendes Beispiel ist die Stadt
Zamosc,
wo von der Vorkriegsbevölkerung von etwa 12.000 Juden ca. 7.000 vor den Deutschen in die Sowjetunion
flüchteten. Sie wurden umgehend durch Juden aus Nachbargemeinden und etwa 8.000 Juden aus den annektierten
polnischen Gebieten ersetzt. Als die Deportationen nach
Belzec begannen,
trafen Juden aus Deutschland und dem "Protektorat Böhmen und Mähren" in der Stadt ein. Nur einige Juden,
die schon vor dem Krieg in
Zamosc gewohnt hatten, überlebten bis zur
Liquidierung des Ghettos bzw. dem letzten Deportationszug nach
Izbica und
anschließend nach
Belzec.
Trotz der unmenschlichen Lebensbedingungen und den außerordentlich schwierigen Verhältnissen wurde
das religiöse und kulturelle Leben der Juden so weit wie möglich aufrecht erhalten, besonders in
größeren Städten. Es gab Musik-, Opern- und Theaterveranstaltungen sowie Bibliotheken.
Viele Gedichte und Kunstwerke sind erhalten geblieben und bezeugen das Leben und Sterben in den Ghettos.
Im Ghetto von
Vilnius (Wilna) wurde ein Museum eingerichtet. Obwohl
Bildungsanstalten verboten waren, besuchten viele Kinder heimlich Schulen, und Erwachsene studierten weiterhin
z.B. religiöse Texte. Jüdische Feiertage und Rituale wurden heimlich begangen.
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Deportation |
Ghettos existierten unterschiedlich lange. Einige gab es nur für wenige Monate, andere mehr als zwei Jahre.
Das große Ghetto von
Lodz, das im
April 1940
eingerichtet worden war, wurde als letztes im
August 1944 liquidiert. Wenn der
Schlussakt für ein Ghetto begann, waren bereits Tausende vorher gestorben.
Am
19. Juli 1942 erteilte
Heinrich Himmler dem Höheren SS- und Polizeiführer
in Krakau,
Friedrich Wilhelm Krüger, und dem
SS- und Polizeiführer Lublin,
Odilo Globocnik, den Befehl, die restlichen Juden im
Generalgouvernement zu eliminieren. Bis zum
31. Dezember 1942 sollte es keine Juden
mehr geben außerhalb der Ghettos von
Warschau, Krakau, Czestochowa, Radom
und Lublin. Kraft Gesetz mussten diese Ghettos Sammellager werden, was de facto KZ bedeutete.
Während der "Aktionen" wurden schon vor der endgültigen Deportation hunderte Juden ermordet. Lange
Kolonnen von hungernden Menschen marschierten schließlich zu den Sammelplätzen, auch
"Umschlagplatz" genannt. Dort mussten die Leute Güterwagen besteigen, oft 100 oder mehr pro Waggon. Die
Züge, die oft aus ca. 50 Waggons bestanden, brachten die Opfer
dann nach den Vernichtungslagern. Um die Ghettobewohner dazu zu bewegen sich freiwillig für die
"Umsiedlung" zu melden, wurde ihnen dafür von den Deutschen eine ordentliche Brotration angeboten. In
Warschau sollte es z.B. 3 kg Brot und 1 kg Marmelade für die
freiwillige Meldung geben. Tausende nahmen dieses Angebot wahr, denn es handelte sich ja nur, entsprechend
der von den Deutschen verbreiteten Falschinformation, um eine Umsiedlung nach dem Osten.
Einige Ghettos wurden erst in der
zweiten Jahreshälfte 1942 eingerichtet,
nach den ersten Deportationen in die Vernichtungslager. Sie waren vorwiegend geschlossene Ghettos und offiziell
für die noch arbeitsfähigen Juden. Tatsächlich waren sie aber Sammelplätze für diejenigen
Juden, die die ersten Deportationen in Verstecken überlebt hatten bzw. außerhalb der Ghettos
Unterschlupf gefunden hatten.
Entsprechend einem Befehl
Krügers durften sich Juden noch
Anfang 1943 an 54 Orten im Generalgouvernement aufhalten. Im
Mai 1943 wurden die meisten dieser "Rest-Ghettos" liquidiert und die noch
arbeitsfähigen Insassen auf KZs und Zwangsarbeitslager verteilt:
Majdanek,
Poniatowa,
Trawniki,
Plaszow,
Budzyn,
Janowska,
Blizyn, Skarzysko-Kamienna oder
Szebnie.
Viele andere Juden wurden in Massenexekutionen ermordet oder in Vernichtungslager geschickt, hauptsächlich nach
Sobibor,
Auschwitz-Birkenau oder
Majdanek.
Lediglich eine kleine Anzahl jüdischer Spezialisten blieb an wenigen Orten zurück. Sie wurden in
streng abgeschirmten Arbeitslagern oder Gestapo-Gefängnissen eingesperrt und mussten hauptsächlich
für örtliche SD-Stellen arbeiten, z.B. bis
Juli 1944 in
Lublin und
Chelm.
Es ist ein allgemein verbreitetes Missverständnis, dass sich Juden nicht ihren Peinigern entgegen stellten,
sondern sich widerstandslos ihrem Schicksal ergaben. Widerstand kann viele Formen annehmen, vom bewaffneten Kampf
bis zum simplen Entschluss möglichst zu überleben. Viele Opfer waren nicht in der Lage sich zu
widersetzen, z.B. alte Leute, Mütter, Kinder oder Behinderte. Viele waren auch einfach zu erschöpft.
Physischer Widerstand war oft nur politisch motivierten jungen Erwachsenen möglich. Es gibt dafür
viele Beispiele. Am besten bekannt sind die Ghetto-Aufstände von
Warschau
und
Bialystok, doch auch in anderen Ghettos gab es bewaffneten Widerstand, z.B. in
Czestochowa, Minsk Mazowiecki, Vilnius und Bedzin.
Angesichts gut ausgebildeter und stark bewaffneter Nazi-Truppen und einer indifferenten nicht-jüdischen
Bevölkerung um sie herum, müssen die Widerstandsaktionen als sehr mutig wenn auch aussichtslos
betrachtet werden.
In vielen Ghettos wurden Chroniken oder Tagebücher geschrieben. Einige sind teilweise oder ganz verloren
gegangen, andere sind erhalten geblieben und wurden die wichtigsten Zeugnisse des Lebens im Ghetto, so z.B.
das warschauer "
Oneg Shabbat Archiv" von Dr.
Emanuel Ringelblum und
die Tagebücher von
Adam Czerniakow und
Chaim Kaplan. Aufzeichnungen aus
Lodz,
Kovno (Kaunas) und anderen Ghettos sind ebenfalls erhalten geblieben.
Stefan Ernest gelang es, im
Januar 1943
vom
Warschauer Ghetto in den "arischen" Teil der Stadt zu flüchten.
Während der Liquidierung des Ghettos war er versteckt und schrieb, im Glauben keine Überlebenschance
zu haben, die Geschichte des Ghettos auf. Am Ende seiner Aufzeichnungen schrieb er:
"... Ich wünsche, dass das Schicksal mir einige Wochen Zeit einräumt mein Leben zu verlängern, um
Zeugnis ablegen zu können wie die Dinge wirklich waren. Ich möchte glauben und ich glaube, dass meine Stimme
nicht allein sein wird in der Beschreibung dieser Ereignisse, und dass da andere sind und sein werden, die das auch
bezeugen werden. Besser, umfassend, exakt... Der Kampf mich selbst zu retten, ist hoffnungslos... Aber das ist
nicht wichtig. Weil ich meinen Bericht zu Ende bringen kann und darauf vertraue, dass er eines Tages zur richtigen
Zeit das Licht erblicken wird. Und Leute werden erfahren, was sich ereignet hat... Und sie werden fragen 'Ist dies die
Wahrheit?' Ich antworte schon jetzt: Nein, dies ist nicht die Wahrheit, dies ist nur ein kleiner Teil, ein winziges
Bruchstück der Wahrheit... Sogar die mächtigste Feder kann nicht die ganze, wirkliche, wesentliche
Wahrheit beschreiben."
Im Ghetto von
Lodz schrieb
Jozef Zelkowicz:
"
Sohn eines Mannes, geh auf die Straße ... Sei stark. Bewahre dein Herz vor dem
Zerbrechen und du wirst vorsichtig und klar beschreiben können, was im Ghetto geschah während der
ersten Tage im September des Jahres eintausendneunhundertundzweiundvierzig."
Beschreibungen einer Anzahl von Ghettos:
Biala Podlaska,
Bialystok,
Bochnia,
Brody,
Czestochowa,
Grodno,
Jaworow,
Kielce,
Kolomyja,
Krakow (Krakau),
Krasnystaw,
Lodz,
Lubartow,
Lublin,
Lviv (Lwow),
Miedzyrzec Podlaski,
Minsk,
Piotrkow Trybunalski,
Przemysl,
Radom,
Radomsko,
Rawa Ruska,
Riga,
Rzeszow (Reichshof),
Siedlce,
Tarnow,
Terezin (Theresienstadt),
Tluszcz,
Tomaszow Mazowiecki,
Vilnius (Wilna),
Warszawa (Warschau),
Zamosc,
Zwolen.
Darstellung einer Stadt, in der kein Ghetto eingerichtet wurde:
Jozefow Bilgorajski.
Siehe auch unsere
ARC Ghetto-Liste!
Karte:
Sir Martin Gilbert
*
Quellen:
Gutman, Israel, ed.
Encyclopedia of the Holocaust, Macmillan Publishing Company, New York, 1990
Hilberg, Raul.
The Destruction of the European Jews, Yale University Press, New Haven, 2003
Gutman Yisrael.
The Jews Of Warsaw 1939-1943, Indiana University Press, Bloomington and Indianapolis, 1989
Arad Yitzhak, Gutman Israel and Margaliot Abraham, eds.
Documents On The Holocaust, University of
Nebraska Press, Lincoln and London, 1999
Browning, Christopher R.
The Origins of the Final Solution – The Evolution of Nazi Jewish Policy
September 1939 – March 1942, William Heinemann, London, 2004
Browning, Christopher R.
Nazi Policy, Jewish Workers, German Killers, Cambridge University Press, Cambridge, 2000
Trunk, Isaiah.
Judenrat – The Jewish Councils in Eastern Europe under Nazi Occupation,
University of Nebraska Press, Lincoln, 1996
Dobroszycki, Lucjan, ed.
The Chronicle of the Lodz Ghetto 1941-1944, Yale University Press, New Haven and London, 1984
Herbert, Ulrich, ed.
National Socialist Extermination Policies – Contemporary German Perspectives
and Controversies, Berghahn Books, New York and Oxford, 2000
Gilbert, Martin.
The Boys – Triumph Over Adversity, Weidenfeld & Nicolson, London, 1996
Adelson, Alan and Lapides Roberts, eds.
Lodz Ghetto – Inside a Community Under Siege, Viking Penguin, New York, 1989
Eisenbach, Artur.
Hitlerowska polityka zaglady Zydow. (Hitler`s Policy of Annihilation of the Jews), Warszawa 1961
Archive of the Jewish Historical Institute in Warsaw: Testimonies by Survivors.
http://en.wikipedia.org/wiki/ghetto
© ARC (http://www.deathcamps.org) 2005