Kindheit
Am
19. Dezember 1928 wurde ich in
Groß Sittensen
bei
Hamburg geboren. Wir waren sechs Geschwister.
Marie war die Älteste, sie wurde
1920 geboren
und
Robert, der Jüngste, kam
1939 zur Welt.
Wir wohnten in
Harburg.
Als ich sechs Jahre alt war,
1934, hat sich meine Familie mit unserem Wohnwagen auf dem
Platz in der
Wasmerstraße 15 niedergelassen. Anfangs war das eine schöne
Zeit. Zwar hatten wir nicht viel Geld aber wir Kinder gingen zum Baden in der Seeve oder liefen zum
"Knusperhäuschen", einer Bäckerei in der
Lüneburger Straße,
wo wir eine Tüte mit Kuchenresten kauften.
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Familie Weiss #1 |
Mein Vater war Musiker und spielte in Gaststätten und auf Feierlichkeiten.
1937 wurde ihm der Gewerbeschein weggenommen. Wie ihm wurde auch anderen Sinti
nicht mehr erlaubt, freiberuflich tätig zu sein. Bis zu seiner Verhaftung
und Deportation
1938 nach
Sachsenhausen
arbeitete mein Vater bei verschiedenen Harburger Firmen auf dem Bau.
Im
Juni 1938 wurde er in das KZ
Sachsenhausen
gebracht, ohne jeden Grund. Später habe ich erfahren, dass es die Anordnung von
Himmler war, dass in jedem Bezirk
mindestens 200 Leute in Haft genommen werden sollten. Und weil mein Vater Sinto war, gehörte er einfach dazu.
So ein Wahnsinn. Wir Kinder wussten das gar nicht, dass mein Vater ins KZ gekommen war. Meine Mutter
wollte uns nicht damit belasten. Ich war ja auch noch nicht mal 10 Jahre alt.
Sie hat gesagt, dass mein Vater unterwegs ist und bald wiederkommt.
In
Sachsenhausen war mein Vater mehrere Wochen, und kam dann aber
nach
Hamburg zurück. Ich wusste von nichts. Erst viel später
hat er uns erzählt, wie schrecklich es dort war und wie sehr er gehungert hat.
1934 kam ich in die Schule am
Kapellenweg in
Harburg. Das hat mir gut gefallen. Ich
lernte gern und hatte in der Schule viele Freunde.
1939 sollte ich plötzlich die
Schule verlassen und in eine andere gehen. Ich verstand das überhaupt nicht und
wollte bleiben. Meine Mutter ist sogar zum Rektor gegangen, damit ich an der Schule
im
Kapellenweg bleiben konnte. Aber alle "Zigeuner" wollte man in einer
Extra-Klasse zusammenfassen. Wir sollten von den damals so genannten arischen Kindern getrennt werden.
Ich musste wie die anderen in die Schule
Maretstraße gehen und da
in eine Klasse mit über 30 Kindern aus allen Altersstufen. Die kamen aus verschiedenen Schulen in
der Umgebung. Alle Sinti-Kinder. Wir waren da Mädchen und Jungs von der ersten
bis zur achten Klasse alle zusammen. Unser Lehrer hieß
Hillebrand
und hat sich nicht viel um uns gekümmert. Oft mussten wir dieselben Aufgaben bearbeiten, egal, ob
wir in der ersten oder achten Klasse waren. Was aber am Schlimmsten war, war, dass wir
mit den "arischen" Kindern nicht mehr sprechen durften. Den Kindern wurde verboten,
mit uns "Zigeunern" zu sprechen und uns hat man das auch strengstens untersagt. Es
wurde sogar auf dem Schulhof ein Kreidestrich gezogen. So hat man uns von den anderen
Kindern getrennt. Und dann wurde uns auch noch verboten, uns mit den anderen Kindern auf
dem Nachhauseweg zu unterhalten. Das wurde strengstens überwacht.
Deportation
Dann kam der
16. Mai 1940. Morgens um vier wurde alles von der Polizei abgesperrt.
Die haben uns aus den Betten gejagt, wir mussten uns sofort anziehen und fertig machen.
Und sie haben uns erzählt, dass wir umgesiedelt werden, dass wir schöne
Häuser in Polen kriegen. Dann haben sie uns auf Lastwagen geladen und die Älteren
haben gleich gedacht, es ist besser, wenn man versucht so gut es geht etwas an Kleidung
mitzunehmen. Wir haben die Sachen übereinander gezogen. Wir sind dann zur
Nöldeckestraße zur Polizeiwache gekommen. Da sind wir
alle gesammelt worden und zum Freihafen gebracht worden, zum Fruchtschuppen. Das war ein großer Raum, so
ungefähr 50 m lang und vielleicht 30 m breit. Da haben alle am Boden gelegen. Wir sind
da registriert worden. Wir mussten unsere Ausweise und unsere Wertsachen abgeben. Uhren,
Ringe und solche Wertsachen haben sie eingesammelt. Die Kinder, auch die größeren,
mussten sich alle nackt ausziehen und wurden untersucht, ob sie irgendwas am Körper
versteckt hatten. Das war den etwas älteren Kindern total peinlich.
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Familie Weiss #2 |
Na ja, schließlich wurden wir dann am
20. Mai in die Waggons verladen. Der Zug stand
ganz in der Nähe vom Fruchtschuppen, am Güterbahnhof. Der lag außerhalb vom
Hauptbahnhof. Das war der
Hannoversche Bahnhof, von wo die Züge
abfuhren. Es waren unglaublich viele Leute und so wahnsinnig voll. Heute weiß ich ja, dass es fast tausend
waren, über die Hälfte waren Hamburger. Die anderen kamen aus anderen Gegenden in Norddeutschland.
Als wir die Polizeiposten an den Zügen sahen, hörte ich wie die Erwachsenen
skeptisch wurden. Sie fragten sich wohl, warum die Polizeibewachung da ist, wenn wir nur
umgesiedelt werden sollen und Häuser kriegen sollen. Viele haben das wohl von
vornherein nicht geglaubt. Und als auch noch die Waggontüren abgeschlossen wurden,
war es den meisten klar, dass hier was nicht stimmte. Jeweils ungefähr 50 waren immer
in einem Güterwaggon. Und immer ein oder zwei Polizeiposten dabei. Die Züge waren
damals noch nicht so modern wie heute, sondern die mussten nach bestimmten Kilometern Wasser
tanken. Da haben dann die Frauen sofort auch nach Wasser für die Kinder geschrieen,
denn in den Waggons gab es kaum Wasser und das Schlimmste war, dass es keine Toiletten gab.
Belzec und Krychow
Ich glaube, wir waren drei Tage und zwei Nächte unterwegs und kamen dann in
Belzec an.
Da sind wir dann ausgestiegen. Da kam uns ein Kommandant auf einem Pferd entgegen. Das war
ein SS-Hauptsturmführer. Der hat sich dann vor uns aufgestellt, er war ein
verhältnismäßig kleiner Mann, der hat sich also vor uns aufgestellt und gesagt:
"
Ab heute seid ihr alle meine Gefangenen. Ich werde einen Strich hier ziehen. Und wer diesen
Strich übertritt, wir erschossen!" Die Männer mussten dann tagelang daran arbeiten,
innen von dem Strich den Zaun zu bauen. Wir mussten also den Stacheldrahtzaun ziehen und uns
selbst einzäunen. Das muss man sich mal vorstellen!
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Gottfried Weiss und seine Kinder |
Wir waren da in so einer großen Baracke, so ungefähr 100 m lang. Da war Stroh drin
und da mussten wir dann alle auf dem Boden liegen. In den ersten zwei Wochen sind über
70 Kinder gestorben. Es gab keinen Arzt, keine sanitären Anlagen. Nachher haben
sie diese Donnerbalken gebaut. Und eines Morgens hab ich gesehen, wie der SS-Mann ein
noch lebendiges Kind begraben ließ. Er hat gesagt:
"
Wenn ich sage, sie ist tot, dann ist sie tot."
Und dann wurde sie in die Grube geworfen und als Sand auf ihre Beine
geschüttet wurde, hat sie sogar noch die Beine bewegt. Ich habe das selbst gesehen.
Jeden Mittag kam ein Wagen mit Wasser. Das war so ein Wagen, mit dem auch die Bauern
die Felder besprühen. Da haben wir uns alle angestellt, um Wasser zu holen.
Direkt neben mir ist irgendjemand geschubst worden und der ist gegen einen SS-Mann gefallen.
Da hat der seine Pistole genommen und auf den Mann geschossen. Er ist noch ein Stück
gelaufen, blutete natürlich, und dann kamen die Frauen und wollten ihm helfen.
Da hat ihn ein anderer SS-Mann von hinten erschossen. Viele sind auch geschlagen worden.
Essen haben wir bekommen. Mittags haben wir ein bisschen Suppe bekommen. In
Belzec
ging es ja noch, im Vergleich zu
Bergen-Belsen. Da hat es fast gar nichts
mehr gegeben. Da gab es am Tag nur einen halben Liter Suppe. In
Belzec ging das
noch. Das war nicht zum Sattwerden, aber es ging.
Wenn ich heute dran denke, tun mir die Eltern so Leid, denn die Eltern haben das bisschen, was
sie bekommen haben, fast alles uns gegeben.
In
Belzec waren wir als Familie zusammen. Von da sind wir dann nach
Krychow gekommen. Das war
ein ehemaliges Zuchthaus, wo wir drin waren. Bei der Ankunft haben sie gleich einen Onkel von mir
erschossen, weil er einen Schritt über den Zaun gemacht hatte, um was aufzuheben, was da lag.
Er war noch drei Tage am Leben und ist dann an Wundstarrkrampf gestorben. Da wurden auch viele geschlagen.
Warschau
Von
Krychow kamen wir noch in ein anderes Lager. Aber am Schlimmsten war es im
Judenghetto
Warschau.
Da sind wir
1943 hingekommen. Aber heute bezeichne ich das als Fingerzeig Gottes.
Ich bin nämlich
gläubig. Und ich sag mir, das muss irgendwo her gekommen sein, dass wir da so viel Glück hatten.
Wir sind in so ein Zimmer gekommen, wo ungefähr 40 oder 50 Leute drin waren. Da konnte man
kaum drin liegen. Von einem anderen habe ich gehört, dass da junge Leute gesucht wurden,
die Arbeit suchten und 250 Gramm Brot dafür bekommen sollten. Wir sind dann da hin und die
haben uns eine Karre mit zwei Rädern gegeben. So groß wie so ein Gemüsewagen etwa. Und wir
mussten dann die Leichen von Kindern aufsammeln. Da haben wir jeden Tag bestimmt so 30 Leichen gesammelt,
die auf der Straße lagen. Die kamen dann in ein Massengrab. Dafür haben wir dann 250 Gramm Brot
abends bekommen. Ich hab viel Schreckliches gesehen.
Da waren Frauen und Mädchen zusammen und Väter und Jungs, getrennt. Das hieß
Gänsegasse,
wo wir waren. Als ich einmal da so mit meinem Onkel ging, hat uns der Posten da einen Tipp gegeben,
weil er uns als Hamburger erkannt hat. Der hat uns dann bei der Flucht aus dem Ghetto geholfen.
Wir haben da alles zusammengepackt. Mein Bruder
Helmut war sehr schwer
krank schon. Er ist dann
auch bald gestorben. Aber wir sind alle weg gekommen. Der Posten hat uns raus gelassen. Sie haben
uns zwar schon am nächsten Tag geschnappt. Aber wir waren dadurch gerettet. Sie haben uns dann
in ein Lager gebracht, wo Munition hergestellt wurde. Das war in
Klettendorf bei
Breslau. Das Lager da wurde dann evakuiert, weil die Russen näher
rückten. Wir kamen dann nach
Liegnitz.
Das war weiter westlich. Von da aus sind wir dann nach
Bergen-Belsen gekommen.
Das war eine furchtbar lange Fahrt, wieder im Güterwaggon.
Bergen-Belsen war am Schlimmsten. Ich begreife heute noch nicht, dass wir
da mit dem Leben davon gekommen sind. Der Lagerkommandant hieß
Kramer.
Das war der ehemalige Lagerkommandant von
Auschwitz. Der hat die
Menschen einfach so erschossen. Das war unvorstellbar, wie viele der umgebracht hat. Heute weiß ich, dass
zwischen Anfang Januar 1945 und Mitte April 35.000 Menschen umgekommen sind.
Bergen-Belsen
Als wir nach
Bergen-Belsen kamen, sind wir an der Rampe angekommen. Das war so
ein bisschen außerhalb vom Lager. Da sind wir nachts ausgeladen worden und mussten so vielleicht einen
Kilometer laufen. Da sind wir über Säcke gestolpert wie wir dachten. Aber das waren keine Säcke,
sondern Tote, die da lagen. Für die Strecke haben wir die ganze Nacht gebraucht. Es war kalt
und hat geregnet. Da waren unglaublich viele Tote.
Meine Mutter wollte später nichts mehr davon hören. Ich bin viele Jahre später wieder
da gewesen und hab mir das angesehen.
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Gottfried Weiss |
Als die Engländer kamen und plötzlich da was zu essen war, hat uns meine Mutter gewarnt.
Sie hat gesagt: "
Esst nicht so viel." Und das war gut so, denn wir waren
das ja gar nicht mehr gewöhnt. Viele sind daran gestorben, dass sie gegessen haben. Der Körper konnte das
gar nicht mehr verdauen. Manche haben versucht, die Dosen mit den Zähnen aufzukriegen.
Die haben sich natürlich furchtbar verletzt.
In
Bergen-Belsen war es wirklich am Schlimmsten. Wir hatten das Glück,
dass wir unser Zeug noch anhatten. Manche hatten so gut wie nichts mehr an. Die haben den Toten sofort die
Sachen ausgezogen und für sich genommen. Ich habe erlebt, wie ein Waggon mit russischen
Gefangenen angekommen war, die waren total ausgemergelt. Als die Engländer kamen, sind
viele von den SS-Leuten abgehauen. Manche sind auch verhaftet worden. Die, die abgehauen sind,
haben sich die Sträflingskleidung angezogen und sind damit los. Viele sind dann auch
geschnappt worden und später verurteilt, sie sind auch zum Tode verurteilt worden.
Ich wünsche mir, dass diese Zeit nie mehr wiederkommt und dass die Menschen das nicht vergessen.
Wir hatten unglaubliches Glück, denn meine Eltern und fünf von uns sechs Geschwistern
überlebten die fünf Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern. Dafür bin ich Gott
heute dankbar.
Gottfried Weiss starb im
März 2003 im Alter von 74 Jahren.
Karin Guth interviewte ihn in seinem Haus in
Hamburg-Harburg am
1. Juli 2002.
Quelle: Karin Guth, Hamburg
Dank an
Struan Robertson
für die englische Übersetzung.
© ARC 2005