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Die Story von Gottfried Weiss

Letztes Update 1. Januar 2006

Kindheit
Am 19. Dezember 1928 wurde ich in Groß Sittensen bei Hamburg geboren. Wir waren sechs Geschwister. Marie war die Älteste, sie wurde 1920 geboren und Robert, der Jüngste, kam 1939 zur Welt. Wir wohnten in Harburg. Als ich sechs Jahre alt war, 1934, hat sich meine Familie mit unserem Wohnwagen auf dem Platz in der Wasmerstraße 15 niedergelassen. Anfangs war das eine schöne Zeit. Zwar hatten wir nicht viel Geld aber wir Kinder gingen zum Baden in der Seeve oder liefen zum "Knusperhäuschen", einer Bäckerei in der Lüneburger Straße, wo wir eine Tüte mit Kuchenresten kauften.
Familie Weiss #1
Familie Weiss #1
Mein Vater war Musiker und spielte in Gaststätten und auf Feierlichkeiten. 1937 wurde ihm der Gewerbeschein weggenommen. Wie ihm wurde auch anderen Sinti nicht mehr erlaubt, freiberuflich tätig zu sein. Bis zu seiner Verhaftung und Deportation 1938 nach Sachsenhausen arbeitete mein Vater bei verschiedenen Harburger Firmen auf dem Bau.
Im Juni 1938 wurde er in das KZ Sachsenhausen gebracht, ohne jeden Grund. Später habe ich erfahren, dass es die Anordnung von Himmler war, dass in jedem Bezirk mindestens 200 Leute in Haft genommen werden sollten. Und weil mein Vater Sinto war, gehörte er einfach dazu. So ein Wahnsinn. Wir Kinder wussten das gar nicht, dass mein Vater ins KZ gekommen war. Meine Mutter wollte uns nicht damit belasten. Ich war ja auch noch nicht mal 10 Jahre alt. Sie hat gesagt, dass mein Vater unterwegs ist und bald wiederkommt.
In Sachsenhausen war mein Vater mehrere Wochen, und kam dann aber nach Hamburg zurück. Ich wusste von nichts. Erst viel später hat er uns erzählt, wie schrecklich es dort war und wie sehr er gehungert hat.
1934 kam ich in die Schule am Kapellenweg in Harburg. Das hat mir gut gefallen. Ich lernte gern und hatte in der Schule viele Freunde. 1939 sollte ich plötzlich die Schule verlassen und in eine andere gehen. Ich verstand das überhaupt nicht und wollte bleiben. Meine Mutter ist sogar zum Rektor gegangen, damit ich an der Schule im Kapellenweg bleiben konnte. Aber alle "Zigeuner" wollte man in einer Extra-Klasse zusammenfassen. Wir sollten von den damals so genannten arischen Kindern getrennt werden. Ich musste wie die anderen in die Schule Maretstraße gehen und da in eine Klasse mit über 30 Kindern aus allen Altersstufen. Die kamen aus verschiedenen Schulen in der Umgebung. Alle Sinti-Kinder. Wir waren da Mädchen und Jungs von der ersten bis zur achten Klasse alle zusammen. Unser Lehrer hieß Hillebrand und hat sich nicht viel um uns gekümmert. Oft mussten wir dieselben Aufgaben bearbeiten, egal, ob wir in der ersten oder achten Klasse waren. Was aber am Schlimmsten war, war, dass wir mit den "arischen" Kindern nicht mehr sprechen durften. Den Kindern wurde verboten, mit uns "Zigeunern" zu sprechen und uns hat man das auch strengstens untersagt. Es wurde sogar auf dem Schulhof ein Kreidestrich gezogen. So hat man uns von den anderen Kindern getrennt. Und dann wurde uns auch noch verboten, uns mit den anderen Kindern auf dem Nachhauseweg zu unterhalten. Das wurde strengstens überwacht.

Deportation
Dann kam der 16. Mai 1940. Morgens um vier wurde alles von der Polizei abgesperrt. Die haben uns aus den Betten gejagt, wir mussten uns sofort anziehen und fertig machen. Und sie haben uns erzählt, dass wir umgesiedelt werden, dass wir schöne Häuser in Polen kriegen. Dann haben sie uns auf Lastwagen geladen und die Älteren haben gleich gedacht, es ist besser, wenn man versucht so gut es geht etwas an Kleidung mitzunehmen. Wir haben die Sachen übereinander gezogen. Wir sind dann zur Nöldeckestraße zur Polizeiwache gekommen. Da sind wir alle gesammelt worden und zum Freihafen gebracht worden, zum Fruchtschuppen. Das war ein großer Raum, so ungefähr 50 m lang und vielleicht 30 m breit. Da haben alle am Boden gelegen. Wir sind da registriert worden. Wir mussten unsere Ausweise und unsere Wertsachen abgeben. Uhren, Ringe und solche Wertsachen haben sie eingesammelt. Die Kinder, auch die größeren, mussten sich alle nackt ausziehen und wurden untersucht, ob sie irgendwas am Körper versteckt hatten. Das war den etwas älteren Kindern total peinlich.
Familie Weiss #2
Familie Weiss #2
Na ja, schließlich wurden wir dann am 20. Mai in die Waggons verladen. Der Zug stand ganz in der Nähe vom Fruchtschuppen, am Güterbahnhof. Der lag außerhalb vom Hauptbahnhof. Das war der Hannoversche Bahnhof, von wo die Züge abfuhren. Es waren unglaublich viele Leute und so wahnsinnig voll. Heute weiß ich ja, dass es fast tausend waren, über die Hälfte waren Hamburger. Die anderen kamen aus anderen Gegenden in Norddeutschland.
Als wir die Polizeiposten an den Zügen sahen, hörte ich wie die Erwachsenen skeptisch wurden. Sie fragten sich wohl, warum die Polizeibewachung da ist, wenn wir nur umgesiedelt werden sollen und Häuser kriegen sollen. Viele haben das wohl von vornherein nicht geglaubt. Und als auch noch die Waggontüren abgeschlossen wurden, war es den meisten klar, dass hier was nicht stimmte. Jeweils ungefähr 50 waren immer in einem Güterwaggon. Und immer ein oder zwei Polizeiposten dabei. Die Züge waren damals noch nicht so modern wie heute, sondern die mussten nach bestimmten Kilometern Wasser tanken. Da haben dann die Frauen sofort auch nach Wasser für die Kinder geschrieen, denn in den Waggons gab es kaum Wasser und das Schlimmste war, dass es keine Toiletten gab.

Belzec und Krychow
Ich glaube, wir waren drei Tage und zwei Nächte unterwegs und kamen dann in Belzec an. Da sind wir dann ausgestiegen. Da kam uns ein Kommandant auf einem Pferd entgegen. Das war ein SS-Hauptsturmführer. Der hat sich dann vor uns aufgestellt, er war ein verhältnismäßig kleiner Mann, der hat sich also vor uns aufgestellt und gesagt:
"Ab heute seid ihr alle meine Gefangenen. Ich werde einen Strich hier ziehen. Und wer diesen Strich übertritt, wir erschossen!" Die Männer mussten dann tagelang daran arbeiten, innen von dem Strich den Zaun zu bauen. Wir mussten also den Stacheldrahtzaun ziehen und uns selbst einzäunen. Das muss man sich mal vorstellen!

Gottfried Weiss und seine Kinder
Gottfried Weiss und seine Kinder
Wir waren da in so einer großen Baracke, so ungefähr 100 m lang. Da war Stroh drin und da mussten wir dann alle auf dem Boden liegen. In den ersten zwei Wochen sind über 70 Kinder gestorben. Es gab keinen Arzt, keine sanitären Anlagen. Nachher haben sie diese Donnerbalken gebaut. Und eines Morgens hab ich gesehen, wie der SS-Mann ein noch lebendiges Kind begraben ließ. Er hat gesagt:
"Wenn ich sage, sie ist tot, dann ist sie tot."
Und dann wurde sie in die Grube geworfen und als Sand auf ihre Beine geschüttet wurde, hat sie sogar noch die Beine bewegt. Ich habe das selbst gesehen.
Jeden Mittag kam ein Wagen mit Wasser. Das war so ein Wagen, mit dem auch die Bauern die Felder besprühen. Da haben wir uns alle angestellt, um Wasser zu holen. Direkt neben mir ist irgendjemand geschubst worden und der ist gegen einen SS-Mann gefallen. Da hat der seine Pistole genommen und auf den Mann geschossen. Er ist noch ein Stück gelaufen, blutete natürlich, und dann kamen die Frauen und wollten ihm helfen. Da hat ihn ein anderer SS-Mann von hinten erschossen. Viele sind auch geschlagen worden.
Essen haben wir bekommen. Mittags haben wir ein bisschen Suppe bekommen. In Belzec ging es ja noch, im Vergleich zu Bergen-Belsen. Da hat es fast gar nichts mehr gegeben. Da gab es am Tag nur einen halben Liter Suppe. In Belzec ging das noch. Das war nicht zum Sattwerden, aber es ging.
Wenn ich heute dran denke, tun mir die Eltern so Leid, denn die Eltern haben das bisschen, was sie bekommen haben, fast alles uns gegeben.
In Belzec waren wir als Familie zusammen. Von da sind wir dann nach Krychow gekommen. Das war ein ehemaliges Zuchthaus, wo wir drin waren. Bei der Ankunft haben sie gleich einen Onkel von mir erschossen, weil er einen Schritt über den Zaun gemacht hatte, um was aufzuheben, was da lag. Er war noch drei Tage am Leben und ist dann an Wundstarrkrampf gestorben. Da wurden auch viele geschlagen.

Warschau
Von Krychow kamen wir noch in ein anderes Lager. Aber am Schlimmsten war es im Judenghetto Warschau. Da sind wir 1943 hingekommen. Aber heute bezeichne ich das als Fingerzeig Gottes. Ich bin nämlich gläubig. Und ich sag mir, das muss irgendwo her gekommen sein, dass wir da so viel Glück hatten. Wir sind in so ein Zimmer gekommen, wo ungefähr 40 oder 50 Leute drin waren. Da konnte man kaum drin liegen. Von einem anderen habe ich gehört, dass da junge Leute gesucht wurden, die Arbeit suchten und 250 Gramm Brot dafür bekommen sollten. Wir sind dann da hin und die haben uns eine Karre mit zwei Rädern gegeben. So groß wie so ein Gemüsewagen etwa. Und wir mussten dann die Leichen von Kindern aufsammeln. Da haben wir jeden Tag bestimmt so 30 Leichen gesammelt, die auf der Straße lagen. Die kamen dann in ein Massengrab. Dafür haben wir dann 250 Gramm Brot abends bekommen. Ich hab viel Schreckliches gesehen.
Da waren Frauen und Mädchen zusammen und Väter und Jungs, getrennt. Das hieß Gänsegasse, wo wir waren. Als ich einmal da so mit meinem Onkel ging, hat uns der Posten da einen Tipp gegeben, weil er uns als Hamburger erkannt hat. Der hat uns dann bei der Flucht aus dem Ghetto geholfen. Wir haben da alles zusammengepackt. Mein Bruder Helmut war sehr schwer krank schon. Er ist dann auch bald gestorben. Aber wir sind alle weg gekommen. Der Posten hat uns raus gelassen. Sie haben uns zwar schon am nächsten Tag geschnappt. Aber wir waren dadurch gerettet. Sie haben uns dann in ein Lager gebracht, wo Munition hergestellt wurde. Das war in Klettendorf bei Breslau. Das Lager da wurde dann evakuiert, weil die Russen näher rückten. Wir kamen dann nach Liegnitz. Das war weiter westlich. Von da aus sind wir dann nach Bergen-Belsen gekommen. Das war eine furchtbar lange Fahrt, wieder im Güterwaggon.
Bergen-Belsen war am Schlimmsten. Ich begreife heute noch nicht, dass wir da mit dem Leben davon gekommen sind. Der Lagerkommandant hieß Kramer. Das war der ehemalige Lagerkommandant von Auschwitz. Der hat die Menschen einfach so erschossen. Das war unvorstellbar, wie viele der umgebracht hat. Heute weiß ich, dass zwischen Anfang Januar 1945 und Mitte April 35.000 Menschen umgekommen sind.

Bergen-Belsen
Als wir nach Bergen-Belsen kamen, sind wir an der Rampe angekommen. Das war so ein bisschen außerhalb vom Lager. Da sind wir nachts ausgeladen worden und mussten so vielleicht einen Kilometer laufen. Da sind wir über Säcke gestolpert wie wir dachten. Aber das waren keine Säcke, sondern Tote, die da lagen. Für die Strecke haben wir die ganze Nacht gebraucht. Es war kalt und hat geregnet. Da waren unglaublich viele Tote.
Meine Mutter wollte später nichts mehr davon hören. Ich bin viele Jahre später wieder da gewesen und hab mir das angesehen.

Gottfried Weiss
Gottfried Weiss
Als die Engländer kamen und plötzlich da was zu essen war, hat uns meine Mutter gewarnt. Sie hat gesagt: "Esst nicht so viel." Und das war gut so, denn wir waren das ja gar nicht mehr gewöhnt. Viele sind daran gestorben, dass sie gegessen haben. Der Körper konnte das gar nicht mehr verdauen. Manche haben versucht, die Dosen mit den Zähnen aufzukriegen. Die haben sich natürlich furchtbar verletzt.
In Bergen-Belsen war es wirklich am Schlimmsten. Wir hatten das Glück, dass wir unser Zeug noch anhatten. Manche hatten so gut wie nichts mehr an. Die haben den Toten sofort die Sachen ausgezogen und für sich genommen. Ich habe erlebt, wie ein Waggon mit russischen Gefangenen angekommen war, die waren total ausgemergelt. Als die Engländer kamen, sind viele von den SS-Leuten abgehauen. Manche sind auch verhaftet worden. Die, die abgehauen sind, haben sich die Sträflingskleidung angezogen und sind damit los. Viele sind dann auch geschnappt worden und später verurteilt, sie sind auch zum Tode verurteilt worden.

Ich wünsche mir, dass diese Zeit nie mehr wiederkommt und dass die Menschen das nicht vergessen. Wir hatten unglaubliches Glück, denn meine Eltern und fünf von uns sechs Geschwistern überlebten die fünf Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern. Dafür bin ich Gott heute dankbar.

Gottfried Weiss starb im März 2003 im Alter von 74 Jahren.
Karin Guth interviewte ihn in seinem Haus in Hamburg-Harburg am 1. Juli 2002.


Quelle: Karin Guth, Hamburg
Dank an Struan Robertson für die englische Übersetzung.

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