Hier ist die bewegende Geschichte von
Regine Böhmer und
Lotte Braun, zwei Sinti-Frauen.
Sie wurden am
20. Mai 1940 nach einem Zwangsarbeitslager in
Belzec deportiert. Die Frauen wurden interviewt von
Karin Guth.
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Lotte Braun |
Lotte Braun:
Ich wurde am
1. Oktober 1927 in
Hamburg geboren.
Mein Vater war
Julius Bamberger, meine
Mutter
Berta Bamberger, geb. Strauss. Wir haben in der
Marcusstraße gewohnt. Mein Bruder
und ich gingen in die Schule.
1938 ist mein Vater verhaftet worden.
Das war die "Juli-Aktion".
Da sind viele von uns aber auch von den Juden verhaftet worden. Sie kamen alle ins KZ
Sachsenhausen. Ich war damals 11 Jahre alt und musste dann aus der Schule
raus. Meine Mutter
musste dann in der Fabrik arbeiten. Und ich musste als Älteste für meine Geschwister
sorgen. Deshalb konnte ich nicht mehr zur Schule gehen. Ich hab den Haushalt gemacht,
gekocht und alles sonst gemacht. Wir hatten keine Probleme mit Nachbarn oder so. Mit
den anderen Kindern durften wir ja nicht zusammen kommen. Denen wurde ja gesagt, dass
sie mit Zigeunern nicht spielen dürfen. So waren wir eigentlich immer unter uns.
1940 bekamen wir die Nachricht aus
Sachsenhausen,
dass mein Vater gestorben ist.
Im
Mai 1940 haben sie uns nach
Belzec in Polen
deportiert. Bis dahin haben wir uns irgendwie
so durchgeschlagen. Meine Großmutter und meine Mutter waren strenger als mein Vater.
Vor meinem Vater hatten wir nicht so viel Angst wie vor der Mama. Wenn wir zu spät
reinkamen, war was los. Wir mussten immer pünktlich drin sein. Wenn es sieben war abends,
hat sie schon gerufen. Wir haben einen guten Vater gehabt. Der hat viel gearbeitet. Er war
Schauermann im Hafen. Und trotzdem haben sie ihn 38 verhaftet. Also ging es gar nicht
danach, ob man arbeitete oder nicht. Wir durften ja auch
Hamburg erst gar
nicht verlassen.
Das Reisen war verboten. In unseren Akten war immer vermerkt, dass wir Zigeuner sind. Und
weil wir angeblich nicht "arisch" sind, haben sie uns weggebracht.
Ganz früh morgens hat man uns abgeholt und zum Fruchtschuppen im Hafen gebracht.
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Regine Böhmer |
Regine Böhmer: Und weißt du noch, was sie uns erzählt haben?
LB: Ja, wir kommen nach Polen und werden dort angesiedelt.
RB: Wir haben das ja geglaubt.
LB: Ja, wir haben das alle geglaubt. Mit fünf Geschwistern und meiner
Mutter haben sie uns in den Fruchtschuppen gebracht.
RB: Bei uns war das genau das gleiche. Ich bin am
2. Februar 1932 in
Hamburg geboren worden.
Morgens um 5 haben sie uns
1940 aus unserer Wohnung am
Nagelsweg in
Hammerbrook geholt.
Das war am
16. Mai 1940. Sie haben zu meiner Mutter gesagt, sie soll alles einpacken,
was wir tragen können und sie soll uns anziehen. Sie haben gesagt, dass wir dann
und dann fertig sein müssen. Wir waren acht Kinder und meine Eltern. Mein Vater war
auch dabei. Mein Vater war
Julius Böhmer und meine Mutter
Emma Böhmer, geb. Stein.
Meine Mutter war total aufgeregt und hat nur immer gesagt "Schnell, schnell, schnell."
Was sie gerade greifen konnte, hat sie eingepackt.
Als wir aus der Wohnung kamen, haben wir schon gesehen, dass von jeder Ecke Familien aus
den Wohnungen kamen. Das waren Familien mit Kindern, mit den Männern, alle waren dabei.
Und als wir zum Fruchtschuppen kamen, war schon alles voll. Es war furchtbar voll aber es
kamen immer noch mehr. Es waren bestimmt Hunderte, die da in dieser riesigen Halle auf
dem Fußboden lagen. Und jeder Familie haben sie dasselbe erzählt. Wir sollten ein Häuschen
in Polen kriegen. Da sollten wir angesiedelt werden. Wie lange waren wir im Fruchtschuppen?
LB: Zwei, drei Tage.
RB: Ja, genau, zwei Tage bestimmt. Wir haben da jeder eine Nummer gekriegt.
Fotografiert wurden
wir nicht, aber wir bekamen alle eine Nummer und wurden registriert. Und es war furchtbar
voll da. Wir mussten auf dem Boden schlafen. Jeder hat sich so eine Ecke gesucht. Ich war
ja noch ziemlich klein, erst acht.
LB: Jede Familie ist abgestempelt worden. Alle Namen wurden aufgeschrieben.
RB: Wir haben dann noch was zu essen mitgekriegt. Ganz in der Nähe von dem
Fruchtschuppen
war der Güterbahnhof. Da mussten wir dann hin. Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube,
die Bahnfahrt dauerte drei Tage. In jedem Abteil oder in jedem Waggon war Polizei. Die sind
mitgefahren. Dann kamen wir dann in
Belzec an. Von der Bahn aus mussten wir
ein ganzes
Stück laufen. Das war kein Lager da in
Belzec. Das war ein Schuppen.
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Scheune der Roma |
LB: Das war so eine Scheune. So eine Art Pferdescheune. Die war aber noch viel
größer als
der Schuppen im Hafen. Es war alles mit Stacheldraht eingezäunt. Wir waren ja alle ganz
durcheinander und aufgeregt. Da war alles so mit Stroh auf dem Boden. Und das ging da so
eine Treppe rauf. Das war so eine Zwischendecke aus Brettern. Und da mussten wir alle rein.
Und hinten war auch noch was. Aber sonst war da nichts. Es war nur eine riesige Scheune.
Da waren auch wieder viele Leute. Viele aus
Hamburg aber auch aus
Bremen, glaube ich.
Wir mussten auf dem Boden auf Stroh schlafen. Toiletten gab es nicht. Waschen konnten
wir uns auch nicht richtig. Nur eine Tonne mit Wasser stand da.
RB: Viele hatten Angst auf der Fahrt. Wir wussten ja nicht, was kommt,
was passiert, wo uns die hinbringen. Irgendwie hat man geahnt, dass das nichts Gutes ist. Aber keiner
wusste vom anderen was. Wir wussten ja nicht, was wirklich gespielt wurde. Aber die Angst war da.
LB: Am nächsten Morgen kam der Lagerkommandant raus. Wir mussten uns
alle zum Appell aufstellen. Und ich weiß noch wie heute, wie er sagte "Ihr seid alle meine Gefangenen.
Und wer sich traut zu flüchten, der wird erschossen, wie ein toller Hund."
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Roma-Lager 2003 |
Das ist mir nie aus dem Kopf gegangen. Morgens mussten wir Appell stehen. Mit Nase und
Mund lagen wir auf dem Boden. Und sein Hund lief hin und her. Der war genau so ein
Teufel wie er auch. Ja, wir mussten uns flach auf den Boden legen. Dieser Lagerkommandant
ist dann mit dem Hund hin und her gegangen. Und wenn jemand den Kopf hoch gehoben hat,
hat der Hund zugebissen. Das war ganz furchtbar. Ich mag da gar nicht wieder dran denken. Wir
haben viel mitgemacht.
Vom Lager
Belzec sind wir dann nach
Krychow gekommen. Von da dann nach
Siedlce. Wir sind bis in die
Tschechoslowakei transportiert worden. Wir sind auch durch
Warschau gekommen.
Da wurde mein Bruder angeschossen. Auf dem Transport, vor
Warschau, ist mein
Bruder,
Rigo, angeschossen worden. Daran ist er gestorben. Als der
Waggon irgendwann hielt,
mussten wir ihn ja irgendwie beerdigen. Das war dann direkt am Gleis. Wir haben ihn in
eine Decke eingewickelt und ihn dann bei den Schienen begraben. Mein Bruder war neun Jahre alt.
Das war
1944. Da waren wir schon vier Jahre immer unterwegs, von einem Lager zum anderen.
Schließlich sind wir bis nach
Prag transportiert worden. Meine Mutter ist auch
angeschossen
worden. Sie war am Bein verletzt. Wie das genau passiert ist, weiß ich nicht. Wir standen
da neben dem Waggon und die haben da geschossen. Meine Mutter traf ein Schuss ins Bein und
meinen Bruder ins Herz. Da war ein Sanitäter. Der hat meine Mutter verbunden. Den Kleinen
auch, aber es half nichts mehr. Er starb am nächsten Tag. Ich war gerade Wasser holen
als er angeschossen wurde. Erst wollte ich ihn noch mitnehmen aber ich dachte, dass ich
alleine schneller bin. Hätte ich ihn mitgenommen, wäre er heute vielleicht noch am Leben.
Ich war 17 als das passierte.
Überall mussten auch die Kinder arbeiten. Wir mussten zum Beispiel in
Siedlce
Waggons mit Kohle ausladen. Da mussten Kind und Kegel arbeiten. Das war schwere Arbeit.
RB: Ich musste auch arbeiten. Und ich war erst acht.
LB: Mein kleinster Bruder war erst fünf Jahre. Sogar der musste mit uns
arbeiten.
RB: Von
Krychow sind viele geflüchtet.
Da war das Lager nicht so bewacht.
Mein Vater hat
dann mit meiner Mutter besprochen, dass wir flüchten sollten. Aber sie hat gesagt "Das mache
ich nicht. Die Kinder werden erschossen, wenn wir das tun. Ich hab Angst." Mein Vater hat
nicht nachgelassen, denn was er wollte, das wollte er. Jedenfalls ist mein Vater mit
zwei von meinen Geschwistern geflüchtet. Mit
Christian und
Rudolf.
Christian war 15 und
Rudolf 11. Er wollte zurück nach
Hamburg.
Er hat aber nicht daran gedacht, dass die Mutter nun allein mit uns sein würde. Mit sechs Kindern.
Mein Vater kam ganz gut durch mit meinen zwei Brüdern. Sie haben es von Polen bis nach
Hamburg geschafft. Und wie er nach
Hamburg kam,
hatte er natürlich keine Papiere. Da
hat er Bekannte getroffen und die haben ihn angeschwärzt, denunziert. Und dann wurde
er wieder verhaftet und nach
Sachsenhausen gebracht. Das war so
Ende 41. Die zwei
Jungs kamen zuerst ins Heim.
Christian war ja schon 15. Der kam dann nach
Auschwitz und
Rudolf kam in ein anderes Lager. Und dann ging das weiter. Dann kam meine Mutter weg.
Sie kam zusammen mit meiner Oma weg. Sie sind von uns getrennt worden. Die beiden kamen
nach
Majdanek. Nun war nur noch meine älteste Schwester da,
Hedwig. Sie hatte selbst schon ein Kind.
Wir mussten uns dann irgendwie durchschlagen. Ich war so neun Jahre alt. Wir hatten
ja kein Obdach und waren immer unterwegs, bis uns die SS geschnappt hat und uns wieder
in ein Lager gesteckt hat. Schließlich haben sie uns im
Sommer 1943 nach
Ravensbrück
gebracht. Ich glaube, bei
Krakau haben sie uns gefasst. Vater, Mutter, die
Geschwister,
alle waren weg. Meine Mutter hatten sie woanders hingebracht. Meine Schwester
Hedwig
war 22. Die musste nun für uns irgendwie sorgen. Sie hatte ja auch einen kleinen Jungen.
Der war ungefähr drei Jahre alt. Mein jüngster Bruder war zwei Jahre alt. Also, die
beiden waren fast gleich alt. Das waren die beiden Kleinsten. Dann kam die
Erika,
die wir ja heute noch suchen, denn wir haben sie verloren bei all dem. Sie war fünf Jahre alt.
LB: Als Kinder haben wir uns nicht gekannt. Wir waren zwar auf demselben
Transport aber haben uns erst später kennen gelernt. Unsere Mütter haben sich gekannt.
RB: Man tat sich auch nicht so zusammen, damit man nicht so auffällt. Wenn man
bei der
Flucht durchkommen wollte, durften nicht so viele zusammen sein. Sobald man ein bisschen
auffiel, wurde man ja erschossen. In
Ravensbrück waren wir eine ganze Zeit.
Meine Schwester
Hedwig musste da im Steinbruch arbeiten. Und wir auch, wir
mussten auch arbeiten. Ich musste
schrubben und sauber machen. Da waren so lange Holztische, die mussten wir jeden Tag putzen.
Es war immer Kontrolle. Nachmittags kam meine Schwester von der Arbeit. Die musste sehr
schwer arbeiten. Und es gab ja fast nicht zu essen. Und nichts anzuziehen. Tiere wurden
da geschlachtet, die man gar nicht essen konnte.
In
Ravensbrück haben wir für acht Personen ein Brot bekommen. Damit
mussten wir länger
als einen ganzen Tag auskommen. Das war so eine Art Kommissbrot. Getrunken haben wir
aus Blechbechern. Es gab immer Steckrübensuppe mit zwei Kartoffeln. Davon war mindestens
eine immer schlecht. Wirklich immer. Für die Kinder gab es auch nicht mehr.
LB: Wo wir waren, gab es auch nie Milch für die Kinder. Was damals bei der
Deportation
aus
Hamburg an Essen mitkam, haben sie uns gar nicht gegeben. Das hatte die
Polizei in einem
extra Waggon. Aber davon haben wir nichts gekriegt. An Kleidung hatten wir nur das, was wir anhatten.
RB: Als wir in
Ravensbrück ankamen, hatten wir
nur Lumpen an und waren vollkommen verlaust.
Wir waren ja schon Jahre unterwegs gewesen. Immer woanders. Immer in einem anderen Lager
oder in den Wäldern.
LB: Wir hatten an den Füssen Lappen. In Polen war es ja kalt. Die Hände
konnte man kaum bewegen
vor Kälte und an den Füssen hatten wir nichts, wir waren barfuß und haben uns manchmal Lappen
rumgewickelt. Das Wasser, das wir hatten, war auch schlecht. Da sind die Kühe vorher durchgelaufen.
Es sind ganz viele Kinder gestorben.
RB: In
Ravensbrück haben sie uns als erstes
die Haare geschoren. Dann mussten wir in eine
Dusche und schließlich bekamen wir was anzuziehen. Das war so wie ein Sack und total hart.
Und da haben wir eine Nummer drauf gekriegt, hinten auf dem Rücken und ein schräges Kreuz
drauf gemalt. Der Stoff war knochenhart. Aus einem großen Berg Holzpantoffeln mussten wir
uns welche raussuchen. Es war ganz egal, ob was passte oder nicht. Manche hatten einen
großen und einen kleinen Schuh. Die Baracken waren total überfüllt. Wir mussten auf
Holzpritschen schlafen, wo Strohsäcke drauf waren. Da drauf mussten immer vier Frauen
und Mädchen schlafen. Es gab nur eiskalte Duschen und kein Handtuch. Wie haben wir da
gefroren. Und immer hatten wir Hunger. Furchtbar war das. Da hab ich auch Typhus gekriegt.
LB: Uns hat die SS auch wieder gekriegt. Wir haben gedacht, wir kommen
nach
Auschwitz. Da
wussten wir schon, dass es
Auschwitz gab. Was das aber genau war, was da alles
passiert, das wussten wir nicht. Aber wir haben gehört, dass es noch Schlimmeres gibt.
RB: In
Ravensbrück hat man viel gehört.
Da kamen ja immer Transporte von
Auschwitz an.
Da kamen viele Familien und wir haben immer gefragt, ob sie unsere Mutter irgendwo
gesehen haben. Jeder hat immer jeden gefragt, wenn welche aus
Auschwitz ankamen. Wir
haben gedacht, dass unsere Mutter in
Auschwitz war. Aber sie war nicht in
Auschwitz, sie war in
Majdanek. Das war ein ganz furchtbares Lager. Sie ist da
1945 von den Russen befreit worden.
LB: In
Majdanek sind die meisten gleich erschossen
worden.
RB: Wegen der vielen, die da ankamen, haben wir viel von
Auschwitz gehört. So wussten wir einigermaßen Bescheid.
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Anni Braun, Lottes Schwester |
LB: Wir hatten oft Glück und konnten der SS oder der Polizei entwischen. Oft
haben wir es
gerade eben noch geschafft. Hätten sie uns damals nach
Majdanek oder nach
Radom geschafft,
wären wir auch alle tot. Irgendwie sind wir aber durchgekommen. Nur mein kleiner Bruder
nicht, der auf dem Transport angeschossen wurde und gestorben ist. Manchmal haben wir
unterwegs auch welche getroffen, die wir gekannt haben. Wir sind bis
Prag gekommen.
1945 waren wir in
Prag im Gefängnis.
Da waren wir ziemlich lange drin.
Sie hatten uns eben doch mal geschnappt. Da waren Kinder und Erwachsenen im Gefängnis.
RB: Man ist bei der ganzen Flucht ja immer auch wieder geschnappt worden. Die haben
einen auch gekriegt. Da konnte man froh sein, wenn sie uns nicht gleich erschossen haben.
Von
Ravensbrück ging dann ein Transport nach
Bergen-Belsen. Das haben sie aber nicht
gesagt. Wir dachten, der Transport geht nach
Auschwitz. Da wurden wir auf der
Lagerstraße
aufgerufen. Es hieß "So und so viele Familien mit Kindern vortreten." Und dann mussten
Frauen auf die Seite und die Kinder auf die andere Seite. Und dann hieß es, dass die
Kinder in die Gaskammer sollten und die Erwachsenen auf den Transport. Dann kam
schließlich aber doch Bescheid, dass die Familien zusammen bleiben sollten und auf
den Transport nach
Bergen-Belsen kommen.
LB: Das war euer Glück.
RB: In
Bergen-Belsen waren wir bis zum Schluss,
bis die Befreiung kam. Bei der Befreiung
waren meine Schwester
Hedwig, die Älteste,
Rudolf,
der Kleinste,
Giovanni und
Erika,
die wir dann verloren haben.
Rudolf kam zuletzt nach
Bergen-Belsen. Der war zwischendurch
woanders gewesen. Er war der, der mit meinem Vater geflüchtet war und wieder in
Hamburg
geschnappt und noch mal weg kam. Er hat gedacht, dass wir alle tot sind. Und
Peter
kam auch später nach
Bergen-Belsen.
Christian hat uns auch in
Bergen-Belsen gefunden.
In
Bergen-Belsen war es ganz furchtbar. Da war ja gar kein Platz für alle,
die da krank
und abgemagert aus all den anderen Lagern dahin kamen. Die Baracken waren total überfüllt.
Alles lag durcheinander. Und so viele waren schwer krank. Sie starben meistens an Typhus.
Oder an Hunger. Mein kleiner Bruder,
Giovanni, ist da gestorben. Er war sieben Jahre alt.
Er war noch nicht mal zwei, als wir aus
Hamburg wegkamen.
LB: Wir waren drei Familien. Das war
Helene
Steinbach, die Familie
Bamberger, das waren wir.
Ich weiss nicht mehr, wie die andere Familie hieß. Wir waren zusammen in dem Gefängnis in
Prag.
1945 haben uns die Tschechen erst
nicht raus gelassen. Wir haben uns selber befreit.
Als der Fliegerangriff war, sind die Häftlinge alle rausgelaufen. Es war Glück, dass
nicht alles zugeschlossen war. Wir sind hunderte von Kilometern gelaufen. Dann haben wir eine
Transportmöglichkeit gefunden. Und dann hatten wir natürlich Angst vor den Russen.
Die haben doch so viele Frauen vergewaltigt. Aber wenn wir gesagt haben, dass wir
Zigeuner sind, haben sie uns laufen lassen. Irgendwie sind wir nach
Spandau
gekommen.
Wie das kam, weiß ich gar nicht mehr. Aber ich weiß noch, dass wir unendlich viel
gelaufen sind. Auch die alte Frau, die
Helene Steinbach. Die Füße
waren ganz kaputt.
Wir haben uns immer von dem ernährt, was die Soldaten weggeschmissen haben. Da haben wir
alles Mögliche zu essen gefunden.
Wie wir schließlich wieder nach
Hamburg gekommen sind, kann ich
gar nicht erinnern. Wir waren erst in
Boitzenburg. Das weiß ich noch.
Aber wie wir da hingekommen sind, das weiß
ich gar nicht mehr. Da haben wir jedenfalls meine Tante gefunden. Wir haben uns ja alle
gegenseitig gesucht. Bei meiner Tante bin ich dann eine ganze Zeit geblieben. Als wir
wieder in
Hamburg waren, haben wir alle zusammen eine Einzimmerwohnung in der
Dammtorstraße, Dammtorwall gekriegt. Dann sind wir nach
Eidelstedt gezogen. Dann hab ich geheiratet. Und dann ging das so weiter.
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Einige Mitglieder von Regine Böhmers Familie |
RB: Als die Engländer nach
Bergen-Belsen kamen,
war ein Drunter und Drüber im Lager. Ich weiß
heute noch nicht, warum und wie ich ins Krankenhaus kam. Ich weiß nicht, wo ich da gelegen
hab, wo sie mich gefunden haben. Ich hab heute noch Narben an meinem linken Arm. Die müssen
von daher sein. Als ich zu mir kam, war ich im Krankenhaus. In
Celle. Da kam ich
überhaupt
erst wieder zu Bewusstsein. Ich wusste gar nicht, wo ich war. Die müssen mich bewusstlos
gefunden haben. Ich hab gleich zu dem Arzt gesagt, dass ich raus will, dass ich zu meiner
Schwester will. "Nein, nein, du musst hier bleiben" hat er gesagt. Er hat so ein bisschen
komisch gesprochen. Ich bin dann einfach weggelaufen. Und ich bin gelaufen, gelaufen,
gelaufen und hab keinen Menschen weit und breit gesehen. 13 war ich. Auf einmal kamen da
zwei Frauen. Ich hab so geweint. Ich hab solche Angst gehabt, weil ich niemanden gesehen hab.
Und die Frauen haben mich gestreichelt und getröstet. Die waren so nett. Sie haben mich
gefragt "Warum weinst du denn?" Und ich hab ihnen alles erzählt, dass ich im Krankenhaus
war, dass ich vorher im Lager war und dass ich aus dem Krankenhaus weggelaufen bin.
Ich hab ihnen gesagt, dass ich meine Schwester suche. Ich hatte ja niemanden als ich
aufwachte. Ich hab zu den Frauen gesagt, dass ich wieder zurück in das Lager will. Ich
hab gedacht, dass das Lager noch da ist. Und die Frauen sind mit mir zum Lager
Bergen-Belsen gegangen. Aber da war niemand mehr. Es war absolut leer. Da hat mich
die eine Frau gefragt, ob ich mit ihr mitkommen möchte. Und ich hab sofort "ja" gesagt.
LB: Man war ja froh über jeden, der einem geholfen hat.
RB: Und die haben mich mitgenommen. Aber erst mussten sie mit mir zum
Polizeirevier. Das
wollte ich natürlich nicht, weil ich Angst vor der Polizei hatte. Die Frau hat mich dann
aber beschützt. Diese beiden Frauen waren Holländerinnen. Ich hab sie kaum verstanden.
Auf der Polizeiwache musste ich wieder erzählen, wo ich herkam. Und immer hab ich erzählt,
dass ich meine Schwester suche. Ich hatte nichts anderes im Kopf als meine Schwester
zu finden. Ich hatte ja keinen Menschen. Bei der Polizei hat die Frau gesagt, dass sie
mich mitnimmt. Sie hat auch so ein Schriftstück gekriegt. Das hat sie in ihre Tasche getan.
Ich war dann ungefähr drei Wochen bei ihr. Ich hab mich da sauwohl gefühlt. Das war eine
Familie. Und nach drei Wochen, vielleicht auch nur vierzehn Tagen, sagt die Frau, dass
sie weg müssen. Sie ist dann noch mal zur Polizeiwache gegangen und hat gemeldet, dass
sie mich nach Holland mitnimmt. Dann wäre ich heute nicht hier. Aber ich hatte ja
keine Papiere. Also, ich durfte nicht mit. Ich kam dann ins Kinderheim. Ach, das war schlimm.
LB: Das glaube ich dir.
RB: Jedenfalls musste ich ins Kinderheim. Ich hab die Frau so vermisst. Die war ja
so gut zu mir. Die hätte mich auch mitgenommen. Im Kinderheim habe ich dann meinen jüngsten
Bruder,
Christian, getroffen und meinen Neffen. Die waren auch im Krankenhaus vorher
gewesen. Und da hab ich auch meine Schwester
Erika getroffen, die
damals 9 Jahre alt war.
Das war das letzte Mal. Sie war furchtbar krank. Ich habe gedacht, dass meine älteste
Schwester,
Hedwig, tot ist. Und über den Suchdienst haben sie
Hedwig gefunden. Und sie kam. Da hat sie auch ihren Mann getroffen. Ihr Mann
war ja auch deportiert worden. Und da kam
Hedwig mit ihrem Mann und hat mich
abgeholt. Aber
Erika haben wir da verloren.
Wir wissen bis heute nicht, ob sie noch lebt oder ob sie gestorben ist.
LB: Das war eine schlimme Zeit.
RB: Ja, das war furchtbar. Das möchte ich nicht noch mal erleben. Ich
würde sofort Tabletten nehmen.
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Roma-Friedhof in Belzec 2003 |
LB: Ich würde das auch nie im Leben mehr schaffen. Es gab auch gute SS-Leute.
Aber die konnte man zählen und die waren nicht lange dabei. Wiedergutmachung habe ich gekriegt.
Aber irgendwie anders haben sich die Leute anfangs uns gegenüber nicht anders verhalten.
Wir waren immer noch die Zigeuner. Die wir noch kannten, wo wir gewohnt haben, die
waren sehr nett.
Den ganzen Satz Wiedergutmachung haben wir ja nicht gekriegt. Ich hab noch nicht mal
Rente, weil ich den Stichtag nicht wusste. Was haben wir von einem Stichtag gewusst.
Heute bekomme ich 175 Euro von Bonn und von der Sozialbehörde Sozialhilfe.
Als ich geheiratet habe, war ich 23 Jahre alt. Ich war 24 als mein Sohn zur Welt kam.
Und mit 25 war die Ehe schon kaputt. Mit meinem späteren Lebensgefährten war ich 23
Jahre zusammen. Und das ging dann schliesslich auch nicht mehr. Das war furchtbar mit ihm.
Ich bin gegangen. Wir haben uns nicht mehr verstanden. Mit ihm habe ich in
Köln
gewohnt.
Als ich von ihm weg gegangen bin, bin ich wieder nach
Hamburg gekommen. Ja, so
1976 oder 77 hatte ich meinen Lebensgefährten kennen gelernt und bin mit ihm nach
Köln gegangen.
Als wir aus dem Lager zurück nach
Hamburg kamen, habe ich dann
Oskar Böhmer näher kennen
gelernt. Und er hat auch alles für mich gemacht, dass ich vor ein paar Jahren wieder nach
Hamburg kommen konnte. Im Grunde sind wir ja alle verwandt.
RB: Ich hab mit 18 geheiratet. Heute bin ich 53 Jahre verheiratet. Immer mit einem und
demselben. Nach dem Krieg haben wir nicht allzu viel über alles gesprochen. Die meisten
von uns hatten ja ungefähr dasselbe mitgemacht.
LB: Mein erster Mann war auch Zigeuner. Er war auch im Lager.
Ich wollte eigentlich nie wieder über alles sprechen, weil man dann wieder an alles denkt.
Ich mag da gar nicht dran denken.
RB: Wenn ich im Fernsehen etwas über die KZ sehe, kann ich die ganze
Nacht nicht schlafen.
Da war vor kurzem wieder was im Fernsehen. Eigentlich wollte ich das gar nicht sehen
aber dann war ich doch ein bisschen neugierig. Nach dem Film war ich so fertig. Ich war
so fertig. Die ganze Nacht konnte ich kein Auge zukriegen. Dann geht man in Gedanken
alles wieder so durch.
LB: Dass wir das alles überstanden haben, kann ich heute manchmal kaum fassen.
Es gab nichts zu essen, kein sauberes Wasser, nichts anzuziehen. Und trotzdem haben wir es überstanden.
Wenn man alte Deutsche sieht, denkt man schon manchmal, was die wohl gemacht haben.
RB. Wenn man einen älteren Menschen sieht und er unsympathisch wirkt, denke ich
gleich, ob das wohl ein Nazi war.
LB: Ist ja nicht immer gesagt.
RB: Doch, meistens sieht man das schon im Ausdruck. Es gibt aber auch viele
ältere Leute, die wirklich nett sind.
LB: Die Polen waren oft nett zu uns. Die haben uns versteckt, wenn sie konnten,
so dass uns die SS nicht kriegen konnte. Die haben ihr Leben riskiert. Und wir hatten immer Angst.
Heute ist es eigentlich egal. Natürlich gibt es Leute, die haben gegen alle was. Gegen die
Ausländer, gegen uns. Die kehren alle über einen Kamm.
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Roma-Massengrab in Belzec 2003. Das Kreuz wurde errichtet
von Kazimierz Urbanski |
RB: Also, ich kann sagen, egal, wo ich bin, ich hab eigentlich keine Probleme.
Ich war ein
paar Mal zur Kur. Da hab ich das gleich gesagt, weil die Leute doch immer gleich sagen "Sie
sind doch bestimmt nicht von hier." Dann sag ich "ich bin eine Zigeunerin. Vater und Mutter
waren Zigeuner. Ich bin eine echte Zigeunerin." Dann sagen sie "nein, das kann nicht sein."
Ich sag dann "doch, ich bin eine Zigeunerin." Darauf bin ich auch stolz. Ich kann ja sagen,
dass ich hier geboren bin und aufgewachsen. Ich hab die deutsche Staatsangehörigkeit und
meine Eltern und Großeltern und alle hatten auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Die
Leute haben das dann auch gleich akzeptiert, wenn ich das ganz offen sage. Sie haben nie
schlecht über mich gesprochen. Es gab nie auch nur irgendetwas. Ich hab das auch nie
verheimlicht, so dass ich immer Angst haben muss. Bei der Kur hab ich es gleich frei gesagt,
damit ich nicht immer dran denken muss, ob ich es nun sagen soll oder nicht. Und sie waren
alle so nett zu mir. Die Ärzte und die Schwestern. Alle. Die haben mich richtig verwöhnt.
Auch in den Krankenhäusern. Ich musste ja schon oft ins Krankenhaus. Als ich einmal im
Krankenhaus war, hat mir eine Frau, die mit mir im Zimmer lag, immer ihre Zeitung oder
Illustrierte gegeben, damit ich auch was zum Lesen hab. Ich konnte ja nun nicht lesen
und hab die Zeitung nur durchgeblättert und dann beiseite gepackt. Und eines Tages fragt
sie mich, wie ich das und das gefunden habe, was da in der Zeitung stand. Da musste ich ihr
ja sagen, dass ich nicht lesen kann. Und sie hat gleich gesagt "warum haben Sie mir das
nicht gesagt? Ich hätte es Ihnen doch ein bisschen beibringen können." Sie war so nett.
Sie war selbst von Beruf Krankenschwester und wurde dann am nächsten Tag entlassen, weil
sie gesund war. Somit konnte sie mir es nicht beibringen. Das hat sie total bedauert.
Ich würde ja gern noch lesen und schreiben lernen, so dass ich wenigstens meinen Namen
besser schreiben kann. Ich hab es ja nicht gelernt, weil ich mit acht ins Lager kam. Und
dann war ich 13 als wir zurück kamen. Wo hätte ich da in die Schule gehen sollen? So war das.
Aber vielleicht lerne ich es noch.
LB: Mir sehen sie gleich an, dass ich irgendwie anders aussehe.
Ich bin ja ein dunklerer Typ. Zigeunerin sagen sie ja nicht, aber Ausländerin. Mein Typ ist ausländisch.
Auf Zigeuner kommen die meisten nicht.
RB: Heute sagen ja die meisten Sinti. Aber viele wissen nicht, was Sinti
bedeutet. Wenn ich dann aber sage, dass ich Zigeunerin bin, verstehen sie es.
Quelle:
Karin Guth,
Hamburg
Dank an
Struan Robertson für
die englische Übersetzung.
© ARC 2005