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Was wussten und was taten die Alliierten?

Letztes Update 26. July 2006

Im März 1942 waren schätzungsweise noch 75 - 80% der Opfer des Holocaust am Leben, während 20 - 25% bereits ermordet worden waren. Im Februar 1943 waren diese Zahlen genau umgekehrt. Anders gesagt, kamen in diesem Zeitraum von nur 11 Monaten mindestens 3 Millionen Juden ums Leben.
1942 war das Jahr der "shechita", des Schlachtens, und dieses Gemetzel fand größtenteils unter dem Deckmantel "Aktion Reinhard" statt. Die meisten Juden ließen ihr Leben in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Viele Tausend wurden auch in der Umgebung der Ghettos erschossen, starben bei Razzien ("Aktionen") oder auf dem Transport in die Vernichtungslager. Andere starben in den Ghettos und Zwangsarbeitslagern an Hunger, Seuchen, Erschöpfung oder Massenexekutionen.
An einem einzigen, typischen Tag, dem 19. August 1942, vernichtete das Reservepolizeibatallion 101 die jüdische Bevölkerung der Stadt Lomazy. Zur selben Zeit waren Deportationszüge unterwegs von Lviv (Lwow) und Jaslo nach Belzec und von Warschau und Otwock nach Treblinka. An diesem Tag wurden über 25.000 Juden ermordet - und es gab viele solcher Tage in diesen schrecklichen Monaten.

Das Wesentliche der Aktion Reinhard kann man in zwei Worte fassen: Geschwindigkeit und Geheimhaltung. Niemand kann die Effektivität der Planung bezweifeln, nachdem erst einmal beschlossen worden war, die Juden zu töten. Die Hauptphase des Mordens war kurz und brutal. Wie stand es jedoch um die Geheimhaltung? Wie war es möglich zu verhindern, dass sich dieser Massenmord herum sprach? Wenn das Schicksal der europäischen Juden bekannt geworden wäre, was hätte man dagegen tun können? Was wurde getan?

Seit den ersten Kriegstagen hatte die britische "Code and Cypher School" verschlüsselte deutsche Militär- und Polizeitelegramme aufgefangen und mehr oder weniger erfolgreich dechiffriert. Im Sommer 1941 (Überfall auf die Sowjetunion / Unternehmen Barbarossa) gehörten deshalb die Entschlüsselungen von Nachrichten über Erschießungen seitens deutscher Polizeitruppen in der UdSSR zum täglichen Geschäft in englischen Geheimdienstbüros. So exekutierte eine SS-Reiterbrigade am 17. August 1941 7.819 Menschen in der Umgebung von Minsk. Erich von dem Bach-Zelewski, Höherer SS- und Polizeiführer in Zentral-Russland, schickte am selben Tag einen Bericht, in dem von 30.000 Erschießungen die Rede war. Zwischen dem 23. und 31. August 1941 wurden 17 Telegramme gesendet, die Details über Erschießungen von Juden im Süden Russlands beinhalteten; die Opferzahlen reichen von 61 bis 4.200. Das Polizeiregiment Süd berichtete am 12. September 1941 über die Erschießung von 1.255 Juden in Ovruch.
Die entschlüsselten Funksprüche wurden regelmäßig an den britischen Militärgeheimdienst weiter geleitet, der dem Premierminister wöchentliche Berichte vorlegte. Die mörderischen Aktivitäten der Einsatzgruppen, die hinter der Ostfront operierten, waren also der britischen Regierung bekannt.
Am 24. August 1941 sagte Winston Churchill in einer Radioansprache:
"Ganze Landstriche sind vernichtet worden. Tausende - wörtlich tausende - von kaltblütigen Erschießungen werden von den deutschen Polizeitruppen verübt an russischen Patrioten, die ihren Heimatboden verteidigen. Seit dem Mongoleneinfall in Europa im 16. Jahrhundert gab es kein so planmäßiges und gnadenloses Gemetzel dieses Ausmaßes, oder auch nur annähernd dieses Ausmaßes."
Churchill fuhr fort:
"Wir sind Zeugen eines Verbrechens, für das es keine Worte gibt."
Juden wurden nicht erwähnt.

Die Briten waren in einer schwierigen Situation, denn die Bekanntgabe zu vieler Einzelheiten hätte der deutschen Abwehr verraten, dass ihr Funkcode von den Briten geknackt worden war. Tatsächlich gibt es Anhaltspunkte, dass die Deutschen diesen Verdacht hegten: Am 13. September 1941 instruierte der Chef der Ordnungspolizei, Kurt Daluege, seine Feldkommandeure, ihre Berichte per Kurier und nicht per Telegramm zu übermitteln.

Im November 1941 war Churchill weniger schweigsam über das Schicksal der Juden. In einem Schreiben vom 14. November an den Jewish Chronicle schrieb er:
"Niemand hat grausamer gelitten als die Juden, denen Hitler und sein scheußliches Regime unvorstellbar Böses an Körper und Geist zugefügt hat."

Eine Woche vorher hatte der Jewish Chronicle über die Judendeportationen nach Polen berichtet. Am 16. Januar 1942 veröffentlichte dieselbe Zeitung einen sowjetischen Bericht über 52.000 ermordete Juden in Kiev. Im Februar 1942 enthielt die Zeitung Neuigkeiten über Gerüchte vom Tod von 18.000 Juden in Poltava, und dass 15.000 Juden in Borisov umgebracht worden seien. Am 10. April erschien ein Artikel, der behauptete, dass 1.200 Juden ins KZ Mauthausen deportiert und mit "Giftgas" ermordet worden seien.

Seit Beginn des Krieges hatte es Zeitungsberichte über Gräueltaten der Nazis gegeben, doch nun waren die Informationen noch finsterer. Unter der Schlagzeile "Juden in Polen fürchten ihren Untergang" legte Dr. Henry Shoskes am 1. März 1942 der New York Times Einzelheiten bezüglich der Todesrate in polnischen Ghettos vor. Demzufolge starben monatlich durchschnittlich 10.000 Menschen.

Eine Bestätigung der Aktivitäten der Einsatzgruppen stand auch unmittelbar bevor: Ein Bericht, der im Mai 1942 vom Jüdischen Arbeitsbund in Warschau an die Polnische Exilregierung in London geschickt wurde, war das erste bekannte Dokument über die Morde, das den Westen erreichte. Dieser Report schilderte Einzelheiten über den Judenmord und enthielt eine genaue Beschreibung der angewandten Methoden. 30.000 Juden wurden in Lviv ermordet, 15.000 in Stanislawow, 5.000 in Tarnopol, 2.000 in Zloczow und 4.000 in Brzezany, wo die jüdische Bevölkerung von 18.000 vor dem Krieg auf nun 1.700 dezimiert wurde. Dasselbe ereignete sich in Zborow, Kolomyja, Stryj, Sambor, Drohobycz, Zbaraz, Przemslany, Kuty, Sniatyn, Zaleszczyki, Brody, Przemysl, Rawa Ruska und anderen Orten in Galizien und im Baltikum. Am 19. Juni kommentierte der Jewish Chronicle, dass Neuigkeiten durchgedrungen seien von kürzlichen, schrecklichen Massakern an Juden in Nazi-Europa. Etwa 85.000 Männer, Frauen und Kinder wurden erwähnt.

Das "United States Office of Strategic Services" erhielt einen am 20. Juni 1942 aus Lissabon abgeschickten Bericht, der mit den Worten "Deutschland verfolgt die Juden nicht mehr. Es vernichtet sie systematisch" begann. Diese Information stammte von einem britischen Offizier, der aus der Gefangenschaft entkommen war und sich eine Zeit lang im Warschauer Ghetto versteckt hielt bevor er nach Portugal entkommen konnte. Er berichtete auch, dass Heinrich Himmler im April 1942 Hans Frank aufsuchte und ihn darüber informierte, dass die Juden nicht schnell genug verschwinden würden, was den "Führer" erfreut hätte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt würden die Juden "so gut wie vernichtet" sein. Eine dementsprechende Erprobung fände in Lublin statt, "wo für einen bestimmten Zeitraum täglich Züge (mit Juden) nach dem Vorortbahnhof Sobibor fahren, und dann weiter nach einem isolierten Gebiet, wo alle mit Maschinengewehren erschossen werden". Bauern hätten nahe gelegene Höfe wegen des Gestanks unbeerdigter Leichen verlassen.

Am 25. Juni 1942 berichtete der London Daily Telegraph, dass er Informationen von der Polnischen Exilregierung erhalten hätte, wonach die Deutschen planten, alles Juden zu vernichten. Die Zeitung brachte auch Details über die Morde, die in Ostpolen verübt worden waren. Danach seien 50.000 Juden in Wilna abgeschlachtet worden, Terror beherrsche das Warschauer Ghetto, und mobile Gaskammern seien im Einsatz. Die Enthüllungen waren schwer zu begreifen. Der Jewish Chronicle kommentierte:
"Die scheußlichen Einzelheiten ... lesen sich wie Geschichten einer unter Drogen verrückt gewordenen Kreatur, die eine Darstellung eines höllischen Alptraumes versucht. Der normale Verstand kann einfach nicht die Tatsache solch widerlicher Enthüllungen begreifen, oder dass sich Männer, sogar die Gemeinsten und Grausamsten, finden konnten, die solche ekelhaften Orgien sadistischen Wahnsinns verüben konnten."
Die Times of London brachte am 10. Juli 1942 einen Bericht, wonach der polnische Vizepremierminister S. Mikolajczyk Informationen von der Polnischen Heimatarmee AK (eine von zwei Hauptgruppen des polnischen Untergrundes) erhalten hatte über die Liquidation von Polen und die schreckliche Lage der Juden, die massenhaft ermordet und nach unbekannten Orten deportiert würden.
Das Newsweek-Magazin beschrieb in seiner Ausgabe vom 10. August 1942, dass Zugladungen mit Juden aus Warschau in einem Nichts ("black limbo") verschwinden würden.
Am 20. August 1942 zitierte die New York Times die Vortagsausgabe der französischen Zeitung Paris Soir, in der zu lesen war, dass Juden aus Frankreich nach "polnisch Schlesien" deportiert würden.

Im Sommer 1942 gab es auch Informationen aus erster Hand. In der Schweiz äußerten sich drei Deutsche unabhängig voneinander.
Der Journalist Ernst Lemmer sprach von mobilen und stationären Gaskammern, wurde aber als nicht zuverlässig angesehen.
Der Volkswirt Artur Sommer übergab eine Mitteilung an den Universitätsprofessor Edgar Salin in Basel, in der er angab, dass im Osten Vergasungslager errichtet würden. Die BBC solle täglich Warnmeldungen senden. Diese Nachricht blieb auch unbeachtet.
Der dritte Informant war der Geschäftsmann Eduard Schulte. Sein Bericht vom 30. Juli 1942 erreichte den Leiter des genfer Büros des Jüdischen Weltkongresses, Gerhart Riegner. Dieser leitete das Schreiben über diplomatische Kanäle an Rabbi Dr. Stephen Wise in den USA und an den britischen Parlamentsabgeordneten Sidney Silverman weiter. Riegner berichtete, dass im Führerhauptquartier ein Plan in Erwägung gezogen würde, die europäischen Juden nach dem Osten zu deportieren und auf einen Streich zu vernichten. Diskutiert würde auch die Verwendung von Blausäure. Silverman erhielt die Nachricht, Wise nicht. Erst eine ihm von Silverman zugeschickte Kopie brachte die Information. Bis November 1942 wurde der Inhalt der Nachricht nicht veröffentlicht.
Am 5. Oktober 1942 tauchte ein Bericht der Jewish Telegraphic Agency auf, in dem von systematischen Deportationen von Juden aus Lodz die Rede ist, die mit Gas vergiftet würden. Bis November 1942 gab es in den USA keine öffentliche Erklärung zu den erhaltenen Nachrichten.
Das new yorker Magazin Jewish Frontier schrieb in der Ausgabe vom November 1942 über das Töten von Juden in Chelmno, mit einer Information über die dort verwendeten Gaswagen.

Ein Zug mit Juden aus Polen, Deutschland, Belgien und den Niederlanden traf am 14. November 1942 in Palästina ein. Die meisten Passagiere waren Juden aus Palästina, die bei Ausbruch des Krieges in Polen festgenommen worden waren. Nun wurden sie gegen im Westen inhaftierte Deutsche ausgetauscht. Diese Juden konnten zahllose Gräueltaten bezeugen, die von der Jewish Agency in Palästina am 23. November 1942 veröffentlicht wurden. Am nächsten Tag gab Wise eine Pressekonferenz, auf der das Telegramm von Riegner veröffentlicht wurde. Am 25. November publizierte die New York Times von der polnischen Exilregierung erhaltene Informationen, die Belzec, Sobibor und Treblinka erwähnen. In derselben Ausgabe brachte die Zeitung eine Meldung über Betonbauten an der russischen Grenze, die als Gaskammern benutzt würden, über Krematorien in Oswiecim (Auschwitz) sowie eine Schätzung von Wise, dass bereits 2 Millionen Juden ermordet seien. Am folgenden Tag zitierte die New York Times Dr. Ignacy Szwarcbart (Schwartzbart), ein jüdisches Mitglied des Polnischen Nationalrates in London: "Juden werden vergast und in Belzec mit elektrischem Strom umgebracht."

Szmul Zygelboim
Berichte über den Völkermord waren im Herbst und Winter 1942 nicht nur auf die USA beschränkt. Szmul Zygelbojm, ein anderes Mitglied des Polnischen Nationalrates, veröffentlichte den Text seiner Rede vom 1. September 1942, die er anlässlich des 3. Jahrestages des Kriegsanfangs gehalten hatte. Demzufolge waren bis zum Mai 1942 700.000 Juden ermordet worden. Viele starben durch Erschießungen, andere wurden vergast, andere verhungerten. 7.000 würden täglich von Warschau abtransportiert. Zygelbojm bat dringend um sofortige Hilfe, bevor Europa zum Friedhof werden würde. In einer anderen Rede, die im selben Jahr von der BBC gesendet wurde, sagte er: "Es wird eine Schande sein weiter zu leben, zur menschlichen Rasse zu gehören, wenn nicht sofort Schritte unternommen werden, dieses Verbrechen zu stoppen; das größte, das die Geschichte kennt."
Zygelbojm sprach im Dezember 1942 erneut in der BBC: "Wenn der Hilferuf der der polnischen Juden nicht gehört wird, wird Hitler eines seiner Kriegsziele erreichen - die Vernichtung der europäischen Juden, egal wie der Krieg ausgeht."

Am 7. Dezember 1942 berichtete die Times of London, dass der polnische Außenminister E. Raczynski die neuesten Informationen aus Polen an den britischen Außenminister Anthony Eden weiter geleitet hatte: Beweise für den Massenmord an den Juden, Fortsetzung des deutschen Vernichtungsplanes, Deportation aller Juden aus den Niederlanden und Dänemark bis Juni 1943 sowie aus Rumänien bis Ende des Jahres. Am selben Tag wies Eden den britischen Botschafter in Washington darauf hin, dass er nun "kaum noch Zweifel daran hat, dass deutsche Behörden eine Politik verfolgen, die nach und nach alle Juden außer sehr gut ausgebildeten Facharbeitern vernichten soll. Die polnische Regierung hat kürzlich Berichte erhalten, die das höchstwahrscheinlich bestätigen. Man betrachtet diese Berichte als zuverlässig, und sie lesen sich überzeugend."
In einer Antwort auf eine Anfrage des Abgeordneten Silverman im britischen Unterhaus zählte Eden die Grausamkeiten auf, die von den Nazis an den Juden verübt worden waren und prangerte "diese bestialische Politik kaltblütiger Vernichtung" an. Danach erhoben sich die Parlamentarier und verharrten in Schweigen.

Menahem Kirschenbaum
Wenn es noch weiterer Beweise für die beispiellosen Verbrechen im Osten bedurft hätte, so wurden sie im Winter 1942 geliefert. Jan Karski (Kozielewski), ein polnischer Heide, war Mitglied des Untergrundes und arbeitete als Kurier für die polnische Exilregierung. Ende August 1942 wurde er zweimal in das Warschauer Ghetto geschmuggelt, um Augenzeugenberichte zu sammeln. Er traf vorher außerhalb des Ghettos mit Menahem Kirschenbaum von den Allgemeinen Zionisten und Leon Feiner vom Jüdischen Bund zusammen. Bei ihrem ersten Treffen befanden sich die beiden jüdischen Führer im Zustand völliger Verzweiflung. Sie gingen hin und her, während sie das schreckliche Schicksal der polnischen Juden beschrieben. Karski versuchte alles wörtlich zu übermitteln, als er schließlich in London Bericht erstattete.

In Polen konnte niemand den Judenmord verhindern. Daher konnten nur die Alliierten versuchen, die Juden zu retten.
Feiner sagte:
"Lasst es keinem einzigen Führer der Vereinten Nationen möglich werden zu sagen, dass sie es nicht wussten, dass wir in Polen ermordet werden." Und weiter:
"Die Geschichte wird die Alliierten verantwortlich machen, wenn sie nicht handeln. Die Alliierten müssen öffentlich erklären, dass die Verhinderung des Judenmordes zu ihren Kriegszielen gehört. Die alliierte Propaganda soll die Deutsche Nation über das Radio, durch Abwurf von Flugblättern und andere Maßnahmen über Hitlers Verbrechen informieren. Die Namen von Deutschen, die für die Verbrechen und die Methoden verantwortlich sind, sollen veröffentlicht werden, so dass kein Deutscher sagen kann, er hätte nichts davon gewusst. Die Deutschen sollen aufgerufen werden, Druck auf die Naziregierung auszuüben um den Völkermord zu beenden. Wenn es keinen öffentlichen Protest in Deutschland gibt, muss die Deutsche Nation kollektiv verantwortlich gemacht werden für die Verbrechen. Letztendlich müssten die Alliierten Vergeltungsmaßnahmen ergreifen, wenn keine der vorgeschlagenen Maßnahmen erfolgreich ist. Ausgewählte Ziele von kultureller Bedeutung sollen dann bombardiert werden. Deutsche, die sich in alliierten Händen befinden und sich weiterhin zu Hitler bekennen obwohl sie von den Verbrechen wissen, sollen exekutiert werden."
Feiners Ausführungen waren vergeblich. Karski protestierte, dass so ein Ansinnen unmöglich sei, weil es gegen internationales Recht verstößt. Die letzten Bedingungen seien unrealistisch und würden der jüdischen Sache schaden. "Nein," sagte Feiner, "sagen Sie es. Wir wissen nicht, was realistisch oder unrealistisch ist. Wir sterben hier. Sagen Sie es!"

Viele andere Dinge wurden auf diesem ersten Treffen besprochen, unter anderem ein Aufruf der zwei jüdischen Führer zur materiellen Hilfe für die unglücklichen Juden. Schließlich wurde festgestellt, dass man Karski in London nicht glauben würde, wenn er das Besprochene bloß widergeben würde. Informationen seien schon vorher nach England geschickt worden, doch ohne Ergebnis. Um glaubwürdig zu sein, müsste Karski Zeuge werden. Er müsste schwören können, dass er das Gemetzel mit eigenen Augen gesehen hat. Karski willigte ein, sich in das Warschauer Ghetto einschmuggeln zu lassen.

Jan Karski
Irgendwann zwischen dem 20. und 25. August 1942 gelangte Karski in Begleitung von Feiner durch einen Tunnel am Haus Muranowska Straße Nr.6 in das Ghetto. Mehr als 30 Jahre später schilderte er in Claude Lanzmanns Film "Shoah" anschaulich, was er damals sah:
"Es war keine Welt. Es gab keine Menschlichkeit. Die Straßen voll, voll... Verkaufen, Betteln. Weinen und Hunger haben... Es war keine Menschlichkeit. Es war etwas... eine Hölle... Gestank, Gestank, Schmutz, überall Gestank, erstickend. Dreckige Straßen, Nervosität, Anspannung, ein Tollhaus."
Wieder und wieder würde Feiner Karski unnachgiebig auf neuen Horror hinweisen. "Erinnern Sie sich an dies, erinnern Sie sich an das."
Später kehrte Karski noch einmal in das Ghetto zurück, um weitere Bestätigung der schrecklichen Bedingungen zu erhalten, verließ es aber nach kurzer Zeit wieder. "Ehrlich gesagt konnte ich es nicht mehr ertragen... Mir war schlecht." Feiner war jedoch nicht zufrieden. Der Kurier müsste noch mehr sehen, wenn er ein effektiver Zeuge sein sollte. Karski willigte ein, die "Endlösung" wirklich zu sehen. Als ukrainischer Wachmann verkleidet suchte er das Transitghetto Izbica Lubelska auf, wo man die Juden sammelte, bis Belzec aufnahmebereit war. Was er dort sah, ist kaum beschreibbar. Schwer erschüttert von dieser Erfahrung, kehrte Karski nach Warschau zurück, um sich auf die lange und beschwerliche Rückreise nach London vorzubereiten.
Auf seiner Reise trug er einen in einem verschweiß:ten Schlüssel verborgenen Mikrofilm mit sich. Dieser wurde von Paris aus sofort nach London geschickt, und traf noch vor ihm ein. Am 25. November 1942 kam Karski auch wohlbehalten an. Der Mikrofilm bildete die Grundlage für eine Presseerklärung der polnischen Exilregierung am 24. November 1942, einen Bericht in der New York Times vom 25. November und einen Bericht in der Times of London vom 7. Dezember 1942.

Karski hatte gehofft, Churchill treffen zu können, musste sich aber zufrieden geben mit einem Interview mit Eden im Februar 1943.
Karski blieb für einige Monate in England und traf auch einige mehr oder weniger einflussreiche Leute. Es gab jedoch keine relevanten Konsequenzen aus diesen Kontakten, und gleichzeitig arbeiteten die Vernichtungszentren in Polen weiter.
Die polnische Exilregierung schickte Karski schließlich in die USA, wo er am 16. Juni 1943 eintraf. Nun, 11 Monate nach seinem Aufenthalt im Warschauer Ghetto (das inzwischen nicht mehr existierte), traf er endlich die Person, die entscheidenden Einfluss haben könnte auf die Politik der Alliierten, den Präsidenten der USA, Franklin D Roosevelt. Karski nahm kein Blatt vor den Mund, als er dem Präsidenten von seinen Erlebnissen berichtete:
"Es gibt einen Unterschied zwischen dem organisierten Terror gegen Polen und Juden. Die Deutschen wollen den polnischen Staat ruinieren, aber die jüdische Nation in ihrer biologischen Substanz vernichten. Wenn die Deutschen nicht ihre Methode ändern, wie sie mit der jüdischen Bevölkerung umgehen, wenn es von alliierter Seite keine Intervention gibt, ob durch Vergeltungsmaßnahmen oder anders, werden die polnischen Juden nicht mehr existieren."
Karskis leidenschaftliche Bitte im Namen der Juden beeinflusste möglicherweise den amerikanischen Präsidenten in seiner Entscheidung, das Amt für Kriegsflüchtlinge am 22. Januar 1944 einzurichten. Dieser Schritt hatte den positiven Effekt, dass das "War Refugee Board" bis zum Kriegsende eine wichtige Rolle spielte bei der Rettung von ca. 200.000 Juden aus Ungarn und Rumänien. Wenn Roosevelt nun gehandelt hatte, war es eine sichere Folge von Karskis tapferen Anstrengungen, das Morden zu beenden. Allerdings hatten die Lager der Aktion Reinhard 1944 ihre grausame Aufgabe lange erledigt und waren dem Erdboden gleichgemacht worden. Die meisten Opfer des Holocaust waren bereits tot.
Karskis Mission ist letztlich unterminiert worden von einer Kombination aus politischer Heuchelei, sorgloser Bürokratie, nationalem Egoismus und Gleichgültigkeit. Es scheint so, als ob die Juden nichts Wert gewesen seien.

Szwarcbart übermittelte am 4. Dezember 1942 eine Bestätigung für Karskis Erlebnisse an den Jüdischen Weltkongress in New York. Wegen der Vorschriften der Kriegszensur blieb eine Kopie der Nachricht beim "British Public Records Office" in Kew (Großbritannien) erhalten. Noch außergewöhnlicher ist das Telegramm, das am Vortag von Abraham Stupp an den Jüdischen Weltkongress geschickt worden ist.
Weil Palestina damals britisches Mandatsgebiet war, unterlag dieses Telegramm auch der Kriegszensur, und eine Kopie des Telegramms wurde ordnungsgemäß an das Außenministerium geschickt. Das Telegramm enthielt umfassende Informationen über die Vernichtungspolitik der Nazis, von denen die Palestina-Flüchtlinge aus erster Hand berichten konnten: 70.000 Juden sind aus Lublin deportiert worden. 7.000 sind nach Majdanek geschickt worden. Keine Spur von 63.000, die vermutlich ermordet worden sind. Im Mai 1942 gab es in Krakau nur noch 6.000 Juden. Alle anderen Juden der Stadt sind nach einem unbekannten Ziel depotiert und wohl ermordet worden. 10.000 Juden wurden von Tarnow deportiert, wobei 7.000 bereits auf dem Bahnhof erschossen worden sind.
Deportationen aus Warschau hatten am 22. Juli 1942 begonnen, mit 7.000 Juden täglich. Bis Oktober 1942 gab es dort nur noch 36.000 Juden. Die Deportierten sind nach Treblinka gebracht worden, wo man sie "in sogenannte "Badehäuser" sperrte, in luftdichte Räume. Die Luft wurde abgepumpt, so dass die Menschen erstickten. Andere Berichte besagten, dass die Juden mit Giftgas ermordet worden sind." Tatsächlich verließ niemand dieses "Badehaus" lebend. Leichen wurden am laufenden Bande verbrannt. Anfang Januar 1942 wurden Juden aus dem "Wartheland" nach Chelmno (Chelmno Nad Nerem) gebracht und in Gaswagen ermordet.
Das Telegramm beschrieb dann noch weitere Gräueltaten und schloss mit einer Aufforderung, dass die Regierungen der zivilisierten Welt diesen Verbrechen ein Ende bereiten sollten. Eine Kopie dieses Telegramms wurde an die Regierungen der demokratischen Staaten verschickt, unterzeichnet von Anselm Reiss, Repräsentant der polnischen Juden.

Bis jetzt hatten die Alliierten eine peinliche Menge an detaillierten Informationen über die Vernichtung der Juden. Viel mehr folgte noch in den Jahren 1943 bis 1944, besonders hinsichtlich Auschwitz. Von dort erhielt das londoner Büro des "United States Office of Strategic Services" (Vorläufer des CIA) einen umfassenden Bericht. Dieser war am 10. und 12. August 1943 zusammengestellt worden und am 28. Januar 1944 in London angekommen. Er enthielt umfassende Informationen über das Morden in Auschwitz. Unter anderem beschreibt der Report die Vergasung von 468.000 nicht registrierter Juden bis September 1942. Zwischen September 1942 und Anfang Juni 1943 trafen ca. 60.000 Juden aus Griechenland, 50.000 Juden aus der Slowakei und dem "Protektorat Böhmen und Mähren", 60.000 Juden aus den Niederlanden, Belgien und Frankreich sowie 16.000 Juden aus polnischen Städten in Auschwitz ein. Anfang August trafen 15.000 Juden aus Sosnowiec und Bedzin ein. Von allen Ankommenden hatten nur 2% überlebt. Von mehr als 14.000 Roma wurden 90% vergast.
Der Bericht beschrieb auch die Krematorien in Birkenau und gibt Auskunft über die Haupttäter: Höss, Schwarz, Aumeier, Mandel, Grabner, und Boger. Der Report endet mit der Feststellung: "Die Geschichte kennt keine Parallele hinsichtlich der Zerstörung menschlichen Lebens."

Am 25. September 1943 berichtete das Internationale Rote Kreuz über Ghettoliquidationen in Galizien und ein Massaker an der jüdischen Bevölkerung von Rawa Ruska im Dezember 1942. Es gab die Aussage eines Treblinka-Flüchtlings, David Milgrom, vom 30. August 1943, und einen Bericht über Erschießungen in Majdanek am 24. Februar 1944 (Aktion Erntefest).

Rudolf Vrba
Am 10.April 1944 entkamen zwei slowakische Juden, Rudolf Vrba (Walter Rosenberg) und Alfred Wetzler, aus Auschwitz-Birkenau. Möglicherweise die Slowakei erreichend, machten sie lange und detaillierte Aussagen gegenüber dem Judenrat in Zilina.

Am 19. März 1944 besetzte die deutsche Armee Ungarn. Im selben Monat wurde die Rampe in Birkenau, die direkt zu den Krematorien ausgerichtet war, fertig gestellt. Man hörte in der Umgebung des Lagers SS-Männer von "ungarischer Salami" reden. Offensichtlich sollten die nächsten Opfer aus Ungarn sein, dem Land mit der größten jüdischen Bevölkerung, die es innerhalb des Nazi-Machtbereiches noch gab.
Vrba und Wetzler wussten, dass sie die ungarischen Juden vor dem bevorstehenden Schicksal warnen mussten. Anfang Mai 1944 schickten sie einen Bericht an das ungarische Außenministerium. Eine Kopie wurde am 16. Juni an die Kommission für Kriegsflüchtlinge geschickt.
Trotz allem begannen die Deportationen ungarischer Juden nach Birkenau am 15. Mai 1944 und setzten sich fort bis zum 9. Juli 1944. 437.000 Juden wurden deportiert, die meisten kurz nach der Ankunft vergast.

Viele Berichte waren allerdings fehlerhaft. Einzeln gesehen, sind manche fragwürdig. Insgesamt gesehen belegen diese Berichte aber unbestritten die Tatsache, dass die Deutschen ein ungeheures Verbrechen in Europa ver&uumL,bten. Nur diejenigen, die es nicht sehen wollten, konnten ableugnen, dass es eine gut organisierte und effektive Machinerie des Massenmordes in Europa gab.

Das Verschwinden der Juden, und möglicherweise ihre Vernichtung, war nicht irgendeinem anderen Zweck untergeordnet. Obwohl der Raub von jüdischem Eigentum keine geringe Rolle spielte, war doch die Ausrottung der Juden das eigentliche Ziel von Hitlers Judenpolitik.
Hitlerdeutschland wollte die Juden vernichten. Die Alliierten kämpften aber nicht, um die Juden zu retten, zumindest war es nicht eines der vorrangigen Kriegsziele. Die Alliierten konnten viele Gründe für ihre Untätigkeit nennen; einige stichhaltig, andere fragwürdig. Die Verschiffung der Juden in die Sicherheit war nicht möglich. Es mag ausländische Agenten unter den Flüchtlingen gegeben haben, die die Kriegsanstrengungen hätten unterminieren können. Sowohl in Großbritannien als auch in den USA gab es Befürchtungen, dass der Antisemitismus durch den Zustrom einer großen Anzahl von Juden gefördert werden könnte. Die Briten waren besorgt über einen möglichen Zustrom von Juden nach Palestina. Nichts war erlaubt, die Alliierten von ihrem militärischen Ziel abzubringen, Deutschland zu schlagen. Letztlich, und auch am wichtigsten, war die Tatsache, dass man die Juden weder als Nationalität noch als Alliierte ansah. Aus dieser Argumentation heraus war die jüdische Situation hoffnungslos.

Es gab einen großen Anteil von Zynismus in der Einstellung der Alliierten. Man hielt es nicht für nötig, den Juden in ihrer verzweifelten Lage irgendeinen Vorrang einzuräumen. Tatsächlich herrschte in alliierten Kreisen eher eine gegenteilige Meinung vor.
Die Alliierten fürchteten, die Juden als Sonderfall anzusehen. Über 100.000 Polen, Griechen und Jugoslawen sind ab 1942 evakuiert worden. Die Alliierten kamen den Nahrungsmittelanforderungen der griechischen Bevölkerung zwischen 1942 und 1945 im Wesentlichen nach.
Der stellvertretende amerikanische Staatssekretär Breckinridge Long vertraute im April 1943 seinem Tagebuch an, "dass jede Hilfe für Juden im Namen der Alliierten für Hitler so aussehen würde, als ob wir diesen Krieg um der Juden willen führten, angestiftet und geleitet von unseren j&uumL;dischen Mitbürgern."

1942 hatten die Alliierten weder die Mittel noch den Willen, die europäischen Juden zu unterstützen. Sie verloren an allen Fronten. Eine militärische Intervention irgendeiner Art in Ostpolen oder der westlichen Sowjetunion war unmöglich, was aber nicht heißen soll, dass man nicht doch etwas hätte tun können. Wenn man 1942 nicht militärisch eingreifen konnte, sah es doch 1944 anders aus. Auf wiederholte Anfragen jüdischer Führer, die Krematorien von Birkenau und die dorthin führenden Eisenbahnstrecken zu bombardieren, gab es immer wieder die Standartantwort, dass jegliche Aufspaltung von Mensch und Material den Sieg der Alliierten verzögern würde. Nur ein Sieg über die Nazis könne die Juden retten. Das war eine selbstverständliche Wahrheit, aber das Argument war trügerisch. Die einfache Tatsache war, dass die Nazis die Juden schneller töteten, als die Alliierten den Krieg gewannen. 6 Millionen Leichen befreien? Die Alliierten waren nicht in der Lage, oder nicht willig, dieses Dilemma zuzugeben. William J Casey, Mitglied des "United States Office of Strategic Services" (OSS) und in London stationiert, schrieb in seinen Memoiren:

"Ich werde nie verstehen, wie wir mit all unserem Wissen über Deutschland und seine Militärmaschinerie so wenig über die Konzentrationslager und das Ausmaß des Holocaust wussten. Wir wussten zwar allgemein, dass die Juden verfolgt wurden, dass man sie in den besetzten Gebieten einfing und nach Deutschland verschleppte, dass sie nach Lagern deportiert wurden und dass Brutalität und Morden in den Lagern statt fanden. Aber nur wenige, wenn überhaupt, verstanden das Ausmaß. Es war nicht ausreichend real, um sich von der allgemeinen Brutalität und dem Gemetzel des Krieges abzuheben. Man unterhielt sich in London nicht viel über Konzentrationslager; es sei denn als Orte, wohin die Deutschen gefangene Agenten oder Widerstandskämpfer einlieferten, wenn diese nicht schon auf der Stelle erschossen worden waren. Und die Berichte, die wir erhielten, wurden beiseite gelegt wegen der offiziellen Politik in Washington und London, sich nur auf die Abwehr des Feindes zu konzentrieren."

Die Bombardierung von Eisenbahnlinien wäre sicher uneffektiv gewesen, denn sie wären schnell erneuert worden. Tatsächlich wurde Auschwitz trotzdem von der USAAF viermal zwischen August und Dezember 1944 bombardiert. Das Ziel waren aber nicht die Gaskammern oder andere Einrichtungen des Lagers Birkenau, die im August und September immer noch ihrer grausamen Aufgabe nachkamen, sondern der Industriekomplex in Monowitz.
Man muss eingestehen, dass die Bombardierung von Birkenau die Juden dort nicht notwendigerweise gerettet hätte. Die Nazis waren so von dem Vernichtungsprogramm überzeugt, dass sie die Tötung der verbliebenen Juden auch mit anderen Mitteln vollbracht hätten. So wurden z.B. innerhalb von nur zwei Tagen im November des Jahres 1943 42.000 Juden im Rahmen der "Aktion Erntefest" erschossen. Im Sommer 1944 setzte man noch Gaswagen in Chelmno ein, wenn auch nur für eine kurze Zeit. Die Absicht zu töten war so zielstrebig, dass es keine Alternativen gab. Irgendein an die Nazis gerichteteter Hinweis, dass man über das Morden Bescheid weiss, hätte immerhin eine gewisse Chance gehabt, noch Leben retten zu können.

Es gab aber noch einen anderen Faktor in dem gleichgültigen Verhalten der Alliierten. Die Haltung vieler britischer und amerikanischer Politiker, Staatsbeamter, Diplomaten und Militärs war nicht sehr positiv. Ihre Reaktion variierte zwischen Ungläubigkeit und Apathie, Eigennutz und Voreingenommenheit. Gemäß seines Privatsekretärs hat Eden mindestens zweimal seine Abneigung gegen Juden ausgedrückt. Das passte zu der Haltung einiger Bediensteter des britischen Außenministeriums und des United States State Departments. Es wird oft vergessen wie alltäglich es war, fast war es Mode, dass man sich in der Vor-Holocaust-Zeit als Antisemit zeigte.
Breckinridge Long war der Meinung, dass Hitlers Buch "Mein Kampf" den richtigen Sachverhalt schilderte, dass nämlich die Juden Kommunismus und Chaos verkörperten.
Als das US-Finanzministerium versuchte, eine Geldüberweisung von jüdischen Wohltätigkeitsorganisationen zum Aufbau eines Hilfsprogramms zu genehmigen, wurde das vom US-Außenministerium monatelang blockiert. Die Briten waren nicht weniger gefühllos. Im Dezember 1943 wurde ein Telegramm von London nach Washington geschickt, das sich gegen derartige Hilfsprogramme wendete, wegen "der Schwierigkeiten, die die Vielzahl von Juden machen würde, wenn sie gerettet würden."

Im August 1943 schrieb der Vertreter im Britischen Außenministerium, Roger Allen, an den Vorsitzenden des Joint Intelligence Committees, William Cavendish-Bentinck, und ging auf britische Beobachtungen (die die Juden allerdings nicht erwähnten) ein, die von polnischen Untergrundquellen stammten und sich mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Ostpolen befassten. Allen, u.a.:
Es ist wahr, dass es in anderen Berichten Hinweise gegeben hat über den Einsatz von Gaskammern. Diese Berichte sind, wenn auch nicht immer, gewöhnlich vage gewesen und stammten, soweit sie die Vernichtung der Juden betrafen, von jüdischen Quellen. Ich habe nie richtig verstanden, welchen Vorteil die Gaskammer gegenüber dem einfacheren Maschinengewehr hatte, oder der ebenso einfachen Methode des Verhungernlassens. Diese Geschichten mögen wahr oder unwahr sein; aber in jedem Fall schlage ich vor, dass wir keine Erklärung herausgeben, wenn sie nicht schlüssig ist und wir sie nicht bewerten können."

Cavendish-Bentinck fügte seinen eigenen Kommentar ein:
Meiner Meinung nach ist es nicht korrekt, polnische Informationen bezüglich deutscher Gräueltaten als "vertrauenswürdig" zu bezeichnen. Die Polen, und in noch größerem Maße die Juden, neigen dazu, deutsche Gräueltaten zu übertreiben, um uns aufzuhetzen. Sie scheinen erfolgreich gewesen zu sein. Herr Allen und ich selbst haben beide sehr aufmerksam deutsche Gräueltaten verfolgt. Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Beweis gibt, der vor einem Gerichtshof Bestand hätte, dass sowohl polnische Kinder von den Deutschen auf der Stelle ermordet worden sind, während man ihre Eltern zur Arbeit nach Deutschland deportiert hat, als auch polnische Kinder an deutsche Siedler verkauft worden sind. Was das Töten von Polen in Gaskammern anbelangt, glaube ich nicht, dass es irgendeinen Beweis dafür gibt."

Eine interne Untersuchung im Jahre 1944, die die Frage der Vorgehensweise des US-Außenministeriums hinsichtlich der Rettung der Juden betraf, war betitelt: "Report to the Secretary on the Acquiescence of this Government in the murder of the Jews." In einer Meinungsumfrage gegen Ende des Krieges waren 75 - 85% der Amerikaner gegen eine Lockerung der Einwandererquote, was zweifellos jüdischen Flüchtlingen geholfen hätte. Meinungsumfragen in ganz Amerika zeigten, dass man nur Japaner und Deutsche als größere Bedrohung für die amerikanische Gesellschaft empfand als die Juden. Wenn der Antisemitismus in England auch weniger in der Ö,ffentlichkeit geäußert wurde, gab es ihn doch in allen Bevölkerungsschichten.

Unter dem Druck der zunehmenden Beweise veranstalteten die Briten und Amerikaner am 19. April 1943 eine Konferenz auf den Bermudas, um angeblich eine Lösung für das Flüchtlingsproblem zu finden. Die Teilnehmer schlossen kategorisch jede Annäherung an Hitler aus, was die Entlassung von Juden in den besetzten Gebieten, den Austausch von Kriegsgefangenen oder die Sendung von Nahrung an die europäischen Juden betraf. Der Bezug zum Problem der Juden wurde einfach unterdrückt. Die Briten bestanden darauf, dass die Juden nur ein Problem von vielen anderen darstellten. Das US-Außenministerium bestand auf der Verwendung des Begriffes "politische Flüchtlinge", was das wahre Problem verheimlichte. Man erreichte die stillschweigende Übereinkunft, dass die Amerikaner die Briten nicht wegen Palästina unter Druck setzten, und die Briten sich bedeckt halten, was die jüdische Einwanderung in die USA betraf. Auf jeden Fall war diese Konferenz ein Disaster für die Juden. Sie fühlten sich verlassen und vergessen. Und das waren sie tatsächlich.
Während des Krieges gab es zwar eine gewisse Hilfe in diversen Ländern Europas, besonders auch durch das "American Jewish Joint Distribution Committee" ("Joint") und im letzten Kriegsjahr durch das "War Refugee Board", doch letztlich war die Hilfe zu gering und kam zu spät.

Es gibt manche, die (teilweise berechtigt) sagen, dass man hinterher die Alliierten leicht kritisieren kann. Die Welt von 1942 unterscheidet sich sehr von unserer heutigen. Nur die, die den Krieg selbst erlebt haben, können die Schwierigkeiten, mit denen sich die Alliierten konfrontiert sahen, einschätzen. Viele der Vorschläge, die man den Alliierten gemacht hat, waren schlicht nicht zu verwirklichen bzw. nach internationalem Recht illegal. Andere, weniger direkte Aktionen wären aber möglich gewesen. Vorübergehende Flüchtlingslager in neutralen Staaten wie Spanien, Portugal, der Türkei, der Schweiz und Schweden hätten eingerichtet werden können. Ein Leben als "displaced person", um den bürokratischen Nachkriegsausdruck zu verwenden, wäre sicher nicht angenehm gewesen, aber doch immerhin besser als die Alternative des Todes. Nicht zuletzt hätte man auch die Flüchtlingsquoten für Palestina und die USA voll ausschöpfen können, was nicht geschah. Breckinridge Long, mit der U.S.-Flüchtlingspolitik befasst, kommentierte in einem internen Memorandum des State Departments im Juni 1940:
"Wir können die Anzahl von Immigranten in die USA verzögern und für eine unbestimmte Zeit stoppen. Wir könnten dies tun durch einfache Anweisung an unsere Konsuln, jedes Hindernis in den Weg zu stellen und ... auf diverse administrative Tricks zurück greifen, die die Ausstellung von Visa verschieben und verschieben und verschieben."
Im Juli 1941 wurden nur 25% der verfügbaren US-Kontingente in Anspruch genommen.
Eine einfache Maßnahme hätte evtl. viele Leben gerettet: Die konsequente Nutzung des Radios zur Verbreitung von Informationen über das Schicksal der Juden. Manch einer hätte die Meldungen richtig eingeschätzt und der Widerstand gegen Hitler wäre evtl. größer gewesen. Rudolf Vrba meinte:
"Hätte irgendjemand mich lebend nach Auschwitz gekriegt, wenn ich gewusst hätte, was das bedeutet? Hätten tausende und abertausende von gesunden jüdischen Männern ihre Kinder, Frauen oder Mütter aus ganz Europa nach Auschwitz fahren lassen, wenn sie gewusst hätten?"
Vielleicht war es ohnehin zu spät gewesen für die Rettung der polnischen Juden, vielleicht hätte keiner dieser Vorschläge einen Juden gerettet. Aber ein gewisses Handeln hätte die Alliierten immerhin moralisch besser dastehen lassen und vermieden, dass man ihnen nach dem Krieg vorwarf, sich nicht groß gekümmert zu haben. Untätigkeit war keine Option. Mitfühlende Worte und Versprechen auf Vergeltung halfen den Opfern nicht wirklich. Sinnvolle Taten wären erforderlich gewesen. Über allem steht die fehlerhafte Einschätzung des Gegners, kombiniert mit einem Mangel an Mitgefühl, für das die Alliierten verantwortlich sind. So fügte sich das Verhalten der Alliierten unbeabsichtigt in die Nazipolitik eines Völkermordes.

Sogar nach Einnahme des KZ Majdanek durch sowjetische Truppen im Juli 1944 und der darauf folgenden Erlaubnis für westliche Reporter, das Lager zu besichtigen sowie der Darstellung der Krematorien in Wochenschauen und Fotos in Kinos und Zeitungen, versuchten viele immer noch, die Realität der Ereignisse zu verdrängen. Die Times of London fragte sich, ob es der gute Geschmack erlaube, die Gräuel von Majdanek darzustellen. Die BBC teilte ihrem Korrespondenten bei der Roten Armee mit, dass sein Bericht aus Majdanek ein "Propagandafilm" sei. Er wurde nicht gesendet.
Das Schicksal der europäischen Juden war schon besiegelt, bevor die Einsatzgruppen den Osten Europas mit Tod und Verderben überzogen, bevor die Züge nach Belzec, Sobibor und Treblinka fuhren. Die Juden waren bereits verdammt durch eine Mischung aus Eigennutz, Ausländerhass und Intoleranz vor dem Kriege. Die Ereignisse der "Reichskristallnacht" im November 1938 hätten eigentlich jedem Menschen zeigen müssen, was die Nazis mit den Juden im Sinn hatten. Wenn auch niemand den Holocaust vorhersehen konnte, hätte doch ein gewisses Maß an Humanität die zivilisierten, freien Nationen zwingen müssen, ihre Türen weit zu öffnen. Sie blieben jedoch weitgehend verschlossen.

Vielleicht sollten die Schlussüberlegungen zu diesem Kapitel moderner Geschichte Szmul Zygelbojm gehören, der so verzweifelt für die Anerkennung der Notlage der polnischen Juden gekämpft hat. Verzweifelt über die Nachricht, dass die letzten Juden des Warschauer Ghettos, einschließlich seiner Frau Manya und seines 16jährigen Sohnes Tuvia, liquidiert worden waren, nahm er sich am 12. Mai 1943 im Alter von 48 Jahren in London das Leben. Sein letzter Brief, an die Mitglieder der Polnischen Exilregierung, enthält diese Zeilen:

"Die Verantwortung für die Ermordung der gesamten jüdischen Bevölkerung liegt in erster Linie bei den Mördern, aber indirekt ist auch die menschliche Gesellschaft als Ganzes verantwortlich - alle alliierten Nationen und ihre Regierungen, die bis heute nichts getan haben um das Verbrechen zu stoppen. Ich kann nicht schweigen, ich kann nicht leben während die Reste der jüdischen Bevölkerung in Polen, die mich hierher geschickt hat, zerstört werden. Meine Kameraden im Warschauer Ghetto sind als Helden gestorben, mit der Waffe in der Hand. Ich hatte nicht die Ehre, wie sie zu fallen. Aber ich gehöre zu ihnen und zu ihren Gräbern, ihrem Massengrab. Möge mein Tod ein widerhallender Schrei der Anklage gegen die Gleichgültigkeit sein, mit der die Welt auf die Zerstörung der jüdischen Welt blickt, zuschaut und nichts tut."

Quellen:
1) Hilberg, Raul. The Destruction of the European Jews, Yale University Press, New Haven, 2003
2) Hilberg, Raul. Perpetrators Victims Bystanders, Harper Collins, New York, 1993
3) Gutman, Israel, ed. Encyclopedia of the Holocaust, Macmillan Publishing Company, New York, 1990
4) Gilbert, Martin. The Holocaust – The Jewish Tragedy, William Collins Sons & Co. Limited, London, 1986
5) Wistrich, Robert S. Hitler and the Holocaust, Phoenix Press, London, 2002
6) Browning, Christopher R. Ordinary Men, HarperCollins, New York, 1993
7) Landau, Ronnie S. The Nazi Holocaust, I B Tauris & Co Ltd, London & New York, 1992
8) Lanzmann, Claude. Shoah, Da Capo Press, New York, 1995
9) Dawidowicz Luc S. The War Against the Jews, Bantam Books, New York, 1979
10) Swiebocki, Henryk, ed. London Has Been Informed…, The Auschwitz-Birkenau State Museum, 1997
11) Wood, E. Thomas & Jankowski, Stanislaw M. Karski, John Wiley & Sons Inc, New York, 1994
12) Pohl, Dieter. The Murder of Jews in the General Government, (in Ulrich Herbert, ed. National Socialist Extermination Policies), Berghahn Books, New York, 2000
13) Kushner, Tony. Different Worlds – British perceptions of the Final Solution during the Second World War, (in Cesarani, David, ed. The Final Solution – Origins and Implementation), Routledge, London, 1996
14) Wyman, David S. ed. The World Reacts to The Holocaust, The John Hopkins University Press, Baltimore, 1996

Fotos: GFH

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