Im
März 1942 waren schätzungsweise noch 75 - 80% der Opfer des
Holocaust am Leben, während 20 - 25% bereits ermordet worden waren. Im
Februar 1943
waren diese Zahlen genau umgekehrt. Anders gesagt, kamen in diesem Zeitraum von nur 11 Monaten mindestens 3
Millionen Juden ums Leben.
1942 war das Jahr der "shechita", des Schlachtens, und dieses Gemetzel fand
größtenteils unter dem Deckmantel
"
Aktion Reinhard" statt. Die meisten Juden ließen ihr
Leben in den Vernichtungslagern
Belzec,
Sobibor und
Treblinka. Viele
Tausend wurden auch in der Umgebung der Ghettos erschossen, starben bei Razzien ("Aktionen") oder
auf dem Transport in die Vernichtungslager. Andere starben in den
Ghettos und Zwangsarbeitslagern an Hunger, Seuchen, Erschöpfung
oder Massenexekutionen.
An einem einzigen, typischen Tag, dem
19. August 1942, vernichtete das
Reservepolizeibatallion 101
die jüdische Bevölkerung der Stadt
Lomazy. Zur selben
Zeit waren Deportationszüge unterwegs von
Lviv (Lwow) und
Jaslo nach
Belzec und von
Warschau und
Otwock nach
Treblinka. An diesem Tag
wurden über 25.000 Juden ermordet - und es gab viele solcher Tage in diesen schrecklichen Monaten.
Das Wesentliche der Aktion Reinhard kann man in zwei Worte fassen: Geschwindigkeit und Geheimhaltung.
Niemand kann die Effektivität der Planung bezweifeln, nachdem erst einmal beschlossen worden
war, die Juden zu töten. Die Hauptphase des Mordens war kurz und brutal. Wie stand es jedoch um
die Geheimhaltung? Wie war es möglich zu verhindern, dass sich dieser Massenmord herum sprach?
Wenn das Schicksal der europäischen Juden bekannt geworden wäre, was hätte man dagegen
tun können? Was wurde getan?
Seit den ersten Kriegstagen hatte die britische "Code and Cypher School" verschlüsselte deutsche
Militär- und Polizeitelegramme aufgefangen und mehr oder weniger erfolgreich dechiffriert. Im
Sommer 1941 (Überfall auf die Sowjetunion / Unternehmen Barbarossa) gehörten
deshalb die Entschlüsselungen
von Nachrichten über Erschießungen seitens deutscher Polizeitruppen in der UdSSR
zum täglichen Geschäft in englischen Geheimdienstbüros. So exekutierte eine SS-Reiterbrigade
am
17. August 1941 7.819 Menschen in der Umgebung von
Minsk.
Erich von dem Bach-Zelewski, Höherer SS- und Polizeiführer
in Zentral-Russland, schickte am selben Tag einen Bericht, in dem von 30.000 Erschießungen die Rede
war.
Zwischen dem 23. und 31. August 1941 wurden 17 Telegramme gesendet, die Details
über Erschießungen
von Juden im Süden Russlands beinhalteten; die Opferzahlen reichen von 61 bis 4.200.
Das Polizeiregiment Süd berichtete am
12. September 1941 über die
Erschießung von 1.255 Juden in
Ovruch.
Die entschlüsselten Funksprüche wurden regelmäßig an den britischen Militärgeheimdienst
weiter geleitet, der dem Premierminister wöchentliche Berichte vorlegte. Die mörderischen Aktivitäten
der Einsatzgruppen, die hinter der Ostfront operierten, waren also der britischen Regierung bekannt.
Am
24. August 1941 sagte
Winston Churchill
in einer Radioansprache:
"
Ganze Landstriche sind vernichtet worden. Tausende - wörtlich tausende - von
kaltblütigen Erschießungen werden von den deutschen Polizeitruppen verübt an russischen Patrioten,
die ihren Heimatboden verteidigen. Seit dem Mongoleneinfall in Europa im 16. Jahrhundert
gab es kein so planmäßiges und gnadenloses Gemetzel dieses Ausmaßes, oder auch nur annähernd
dieses Ausmaßes."
Churchill fuhr fort:
"
Wir sind Zeugen eines Verbrechens, für das es keine Worte gibt."
Juden wurden nicht erwähnt.
Die Briten waren in einer schwierigen Situation, denn die Bekanntgabe zu vieler Einzelheiten hätte der deutschen
Abwehr verraten, dass ihr Funkcode von den Briten geknackt worden war. Tatsächlich gibt es Anhaltspunkte, dass
die Deutschen diesen Verdacht hegten: Am
13. September 1941 instruierte der
Chef der Ordnungspolizei,
Kurt Daluege, seine Feldkommandeure, ihre Berichte
per Kurier und nicht per Telegramm zu übermitteln.
Im
November 1941 war
Churchill weniger schweigsam
über das Schicksal der Juden. In einem Schreiben vom
14. November an den
Jewish Chronicle schrieb er:
"
Niemand hat grausamer gelitten als die Juden, denen Hitler
und sein scheußliches Regime unvorstellbar Böses an Körper und Geist zugefügt hat."
Eine Woche vorher hatte der
Jewish Chronicle über die Judendeportationen nach Polen berichtet.
Am
16. Januar 1942 veröffentlichte dieselbe Zeitung einen sowjetischen Bericht über
52.000 ermordete Juden in
Kiev. Im
Februar 1942 enthielt die
Zeitung Neuigkeiten über Gerüchte vom Tod von 18.000 Juden in
Poltava, und dass 15.000
Juden in
Borisov umgebracht worden seien. Am
10. April
erschien ein Artikel, der behauptete, dass 1.200 Juden ins
KZ Mauthausen deportiert
und mit "Giftgas" ermordet worden seien.
Seit Beginn des Krieges hatte es Zeitungsberichte über Gräueltaten der Nazis gegeben, doch nun waren
die Informationen noch finsterer. Unter der Schlagzeile "Juden in Polen fürchten ihren Untergang" legte
Dr.
Henry Shoskes am
1. März 1942 der
New York Times Einzelheiten bezüglich der Todesrate in polnischen Ghettos vor. Demzufolge starben
monatlich durchschnittlich 10.000 Menschen.
Eine Bestätigung der Aktivitäten der Einsatzgruppen stand auch unmittelbar bevor: Ein Bericht, der im
Mai 1942 vom Jüdischen Arbeitsbund in
Warschau
an die Polnische
Exilregierung in
London geschickt wurde, war das erste bekannte Dokument
über die Morde, das den Westen erreichte. Dieser Report schilderte Einzelheiten über den Judenmord
und enthielt eine genaue Beschreibung der angewandten Methoden. 30.000 Juden wurden in
Lviv ermordet, 15.000 in
Stanislawow,
5.000 in
Tarnopol, 2.000 in
Zloczow und
4.000 in
Brzezany, wo die jüdische Bevölkerung von 18.000 vor dem
Krieg auf nun 1.700 dezimiert wurde. Dasselbe ereignete sich in
Zborow, Kolomyja, Stryj,
Sambor, Drohobycz, Zbaraz, Przemslany, Kuty, Sniatyn, Zaleszczyki,
Brody,
Przemysl,
Rawa Ruska und anderen Orten
in Galizien und im Baltikum. Am
19. Juni kommentierte der
Jewish Chronicle, dass
Neuigkeiten durchgedrungen seien von kürzlichen, schrecklichen Massakern an Juden
in Nazi-Europa. Etwa 85.000 Männer, Frauen und Kinder wurden erwähnt.
Das "United States Office of Strategic Services" erhielt einen am
20. Juni 1942 aus
Lissabon abgeschickten Bericht, der mit den Worten "Deutschland verfolgt die
Juden nicht mehr. Es vernichtet sie systematisch" begann. Diese Information stammte von einem britischen
Offizier, der aus der Gefangenschaft entkommen war und sich eine Zeit lang im
Warschauer Ghetto versteckt hielt bevor er nach Portugal
entkommen konnte. Er berichtete auch, dass
Heinrich Himmler im
April 1942
Hans Frank aufsuchte und ihn darüber informierte, dass die Juden nicht
schnell genug verschwinden würden, was den "Führer" erfreut hätte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt
würden die Juden "so gut wie vernichtet" sein. Eine dementsprechende Erprobung fände in
Lublin statt, "wo für einen bestimmten Zeitraum täglich Züge
(mit Juden) nach dem Vorortbahnhof
Sobibor fahren, und dann weiter nach
einem isolierten Gebiet, wo alle mit Maschinengewehren erschossen werden". Bauern hätten nahe gelegene
Höfe wegen des Gestanks unbeerdigter Leichen verlassen.
Am
25. Juni 1942 berichtete der
London Daily Telegraph, dass er Informationen von
der Polnischen Exilregierung
erhalten hätte, wonach die Deutschen planten, alles Juden zu vernichten. Die Zeitung brachte auch Details
über die Morde, die in Ostpolen verübt worden waren. Danach seien 50.000 Juden in
Wilna abgeschlachtet worden,
Terror beherrsche das
Warschauer Ghetto, und
mobile Gaskammern seien im Einsatz.
Die Enthüllungen waren schwer zu begreifen. Der
Jewish Chronicle kommentierte:
"
Die scheußlichen Einzelheiten ... lesen sich wie Geschichten einer unter Drogen
verrückt gewordenen Kreatur, die eine Darstellung eines höllischen Alptraumes versucht. Der normale
Verstand kann einfach nicht die Tatsache solch widerlicher Enthüllungen begreifen, oder dass sich
Männer, sogar die Gemeinsten und Grausamsten, finden konnten, die solche ekelhaften Orgien
sadistischen Wahnsinns verüben konnten."
Die
Times of London brachte am
10. Juli 1942 einen Bericht, wonach der polnische
Vizepremierminister
S. Mikolajczyk Informationen von der Polnischen Heimatarmee AK (eine von
zwei Hauptgruppen des polnischen Untergrundes) erhalten hatte über die Liquidation von Polen und die
schreckliche Lage der Juden, die massenhaft ermordet und nach unbekannten Orten deportiert würden.
Das
Newsweek-Magazin beschrieb in seiner Ausgabe vom
10. August 1942, dass
Zugladungen mit Juden aus
Warschau in einem Nichts ("black limbo") verschwinden
würden.
Am
20. August 1942 zitierte die
New York Times die Vortagsausgabe der
französischen Zeitung
Paris Soir, in der zu lesen war, dass Juden aus Frankreich nach
"polnisch Schlesien" deportiert würden.
Im
Sommer 1942 gab es auch Informationen aus erster Hand. In der Schweiz
äußerten sich drei Deutsche unabhängig voneinander.
Der Journalist
Ernst Lemmer sprach von mobilen und stationären Gaskammern,
wurde aber als nicht zuverlässig angesehen.
Der Volkswirt
Artur Sommer übergab eine Mitteilung an den
Universitätsprofessor
Edgar Salin in
Basel,
in der er angab, dass im Osten Vergasungslager errichtet würden. Die
BBC solle täglich
Warnmeldungen senden. Diese Nachricht blieb auch unbeachtet.
Der dritte Informant war der Geschäftsmann
Eduard Schulte. Sein Bericht vom
30. Juli 1942 erreichte den Leiter des genfer Büros des Jüdischen Weltkongresses,
Gerhart Riegner. Dieser leitete das Schreiben über diplomatische
Kanäle an Rabbi Dr.
Stephen Wise in den USA und an den britischen
Parlamentsabgeordneten
Sidney Silverman weiter.
Riegner berichtete, dass im Führerhauptquartier ein Plan in Erwägung
gezogen würde, die europäischen Juden nach dem Osten zu deportieren und auf einen Streich zu vernichten.
Diskutiert würde auch die Verwendung von Blausäure.
Silverman
erhielt die Nachricht,
Wise nicht. Erst eine ihm von
Silverman zugeschickte Kopie brachte die Information. Bis November 1942
wurde der Inhalt der Nachricht nicht veröffentlicht.
Am
5. Oktober 1942 tauchte ein Bericht der
Jewish Telegraphic Agency auf, in dem
von systematischen Deportationen von Juden aus
Lodz die Rede ist, die mit Gas
vergiftet würden. Bis
November 1942 gab es in den USA keine öffentliche
Erklärung zu den erhaltenen Nachrichten.
Das new yorker Magazin
Jewish Frontier schrieb in der Ausgabe vom
November 1942
über das Töten von Juden in
Chelmno, mit einer Information über die dort verwendeten Gaswagen.
Ein Zug mit Juden aus Polen, Deutschland, Belgien und den Niederlanden traf am
14. November
1942 in Palästina
ein. Die meisten Passagiere waren Juden aus Palästina, die bei Ausbruch des Krieges in Polen festgenommen
worden waren. Nun wurden sie gegen im Westen inhaftierte Deutsche ausgetauscht. Diese Juden konnten zahllose
Gräueltaten bezeugen, die von der
Jewish Agency in Palästina am
23. November
1942 veröffentlicht wurden. Am nächsten Tag gab
Wise eine
Pressekonferenz, auf der das Telegramm von
Riegner veröffentlicht wurde. Am
25. November publizierte die
New York Times von der polnischen Exilregierung
erhaltene Informationen, die
Belzec, Sobibor und
Treblinka erwähnen. In derselben Ausgabe brachte
die Zeitung eine Meldung über Betonbauten an der russischen Grenze, die als Gaskammern benutzt würden,
über
Krematorien in Oswiecim (Auschwitz) sowie
eine Schätzung von
Wise, dass bereits 2 Millionen Juden ermordet seien.
Am folgenden Tag zitierte die
New York Times Dr.
Ignacy Szwarcbart
(Schwartzbart), ein jüdisches Mitglied des Polnischen Nationalrates in
London: "
Juden werden vergast und in
Belzec mit elektrischem Strom umgebracht."
|
Szmul Zygelboim |
Berichte über den Völkermord waren im
Herbst und Winter 1942 nicht nur auf die
USA beschränkt.
Szmul Zygelbojm, ein anderes Mitglied des Polnischen
Nationalrates, veröffentlichte den Text seiner Rede vom
1. September 1942, die er
anlässlich des 3. Jahrestages des Kriegsanfangs gehalten hatte. Demzufolge waren bis zum
Mai 1942 700.000 Juden ermordet worden. Viele
starben durch Erschießungen, andere wurden vergast, andere verhungerten. 7.000 würden täglich
von
Warschau abtransportiert.
Zygelbojm
bat dringend um sofortige Hilfe, bevor Europa zum Friedhof werden würde. In einer anderen Rede, die im selben
Jahr von der BBC gesendet wurde, sagte er: "
Es wird eine Schande sein weiter zu leben,
zur menschlichen Rasse zu gehören, wenn nicht sofort Schritte unternommen werden, dieses Verbrechen zu stoppen;
das größte, das die Geschichte kennt."
Zygelbojm sprach im
Dezember 1942 erneut in der
BBC: "
Wenn der Hilferuf der
der polnischen Juden nicht gehört wird, wird Hitler eines seiner
Kriegsziele erreichen - die Vernichtung der europäischen Juden, egal wie der Krieg ausgeht."
Am
7. Dezember 1942 berichtete die
Times of London, dass der polnische
Außenminister
E. Raczynski die neuesten Informationen aus Polen an den britischen
Außenminister
Anthony Eden weiter geleitet hatte:
Beweise für den Massenmord an den Juden, Fortsetzung des deutschen Vernichtungsplanes, Deportation
aller Juden
aus den Niederlanden und Dänemark bis
Juni 1943 sowie aus Rumänien bis Ende des Jahres.
Am selben Tag wies
Eden den britischen Botschafter in
Washington darauf hin, dass er nun "
kaum noch Zweifel
daran hat, dass
deutsche Behörden eine Politik verfolgen, die nach und nach alle Juden außer sehr gut ausgebildeten
Facharbeitern vernichten soll. Die polnische Regierung hat kürzlich Berichte erhalten, die das
höchstwahrscheinlich bestätigen. Man betrachtet diese Berichte als zuverlässig, und sie lesen sich
überzeugend."
In einer Antwort auf eine Anfrage des Abgeordneten
Silverman im britischen
Unterhaus zählte
Eden die Grausamkeiten auf, die von den Nazis an den
Juden verübt worden waren und prangerte "
diese bestialische Politik kaltblütiger
Vernichtung" an. Danach erhoben sich die Parlamentarier und verharrten in Schweigen.
|
Menahem Kirschenbaum |
Wenn es noch weiterer Beweise für die beispiellosen Verbrechen im Osten bedurft hätte, so wurden sie
im
Winter 1942 geliefert.
Jan Karski (Kozielewski),
ein polnischer Heide, war Mitglied des Untergrundes und arbeitete als Kurier für die polnische Exilregierung.
Ende August 1942
wurde er zweimal in das
Warschauer Ghetto geschmuggelt, um Augenzeugenberichte
zu sammeln. Er traf vorher außerhalb des Ghettos mit
Menahem Kirschenbaum
von den Allgemeinen Zionisten und
Leon Feiner vom Jüdischen Bund zusammen.
Bei ihrem ersten Treffen befanden sich die beiden jüdischen Führer im Zustand völliger Verzweiflung.
Sie gingen hin und her, während sie das schreckliche Schicksal der polnischen Juden beschrieben.
Karski versuchte alles wörtlich zu übermitteln, als er schließlich
in
London Bericht erstattete.
In Polen konnte niemand den Judenmord verhindern. Daher konnten nur die Alliierten versuchen, die Juden zu retten.
Feiner sagte:
"
Lasst es keinem einzigen Führer der Vereinten Nationen möglich werden
zu sagen, dass sie es nicht wussten, dass wir in Polen ermordet werden." Und weiter:
"
Die Geschichte wird die Alliierten verantwortlich machen, wenn sie nicht handeln.
Die Alliierten müssen
öffentlich erklären, dass die Verhinderung des Judenmordes zu ihren Kriegszielen gehört. Die
alliierte Propaganda soll die Deutsche Nation über das Radio, durch Abwurf von Flugblättern und andere
Maßnahmen über Hitlers Verbrechen informieren. Die Namen von Deutschen,
die für die Verbrechen und die Methoden verantwortlich sind, sollen veröffentlicht werden, so dass kein
Deutscher sagen kann, er hätte nichts davon gewusst. Die Deutschen sollen aufgerufen werden, Druck auf die
Naziregierung auszuüben um den Völkermord zu beenden. Wenn es keinen öffentlichen Protest in
Deutschland gibt, muss die Deutsche Nation kollektiv verantwortlich gemacht werden für die Verbrechen.
Letztendlich müssten die Alliierten Vergeltungsmaßnahmen ergreifen, wenn keine der vorgeschlagenen
Maßnahmen erfolgreich ist. Ausgewählte Ziele von kultureller Bedeutung sollen dann bombardiert
werden. Deutsche, die sich in alliierten Händen befinden und sich weiterhin zu
Hitler bekennen obwohl sie von den Verbrechen wissen, sollen exekutiert werden."
Feiners Ausführungen waren vergeblich.
Karski protestierte, dass so ein Ansinnen unmöglich sei, weil es gegen
internationales Recht verstößt. Die letzten Bedingungen seien unrealistisch und würden der
jüdischen Sache schaden. "
Nein," sagte
Feiner,
"
sagen Sie es. Wir wissen nicht, was realistisch oder unrealistisch ist. Wir sterben hier.
Sagen Sie es!"
Viele andere Dinge wurden auf diesem ersten Treffen besprochen, unter anderem ein Aufruf der zwei jüdischen
Führer zur materiellen Hilfe für die unglücklichen Juden. Schließlich wurde festgestellt,
dass man
Karski in
London nicht glauben
würde, wenn er das Besprochene bloß widergeben würde. Informationen seien schon vorher nach
England geschickt worden, doch ohne Ergebnis. Um glaubwürdig zu sein, müsste
Karski Zeuge werden. Er müsste schwören können, dass er das
Gemetzel mit eigenen Augen gesehen hat.
Karski willigte ein, sich in das
Warschauer Ghetto einschmuggeln zu lassen.
|
Jan Karski |
Irgendwann
zwischen dem 20. und 25. August 1942 gelangte
Karski
in Begleitung von
Feiner durch einen Tunnel am Haus
Muranowska Straße Nr.6 in das Ghetto. Mehr als 30 Jahre später
schilderte er in
Claude Lanzmanns Film "Shoah" anschaulich, was er damals sah:
"
Es war keine Welt. Es gab keine Menschlichkeit. Die Straßen voll, voll... Verkaufen,
Betteln. Weinen und Hunger haben... Es war keine Menschlichkeit. Es war etwas... eine Hölle... Gestank,
Gestank, Schmutz, überall Gestank, erstickend. Dreckige Straßen, Nervosität, Anspannung, ein
Tollhaus."
Wieder und wieder würde
Feiner Karski
unnachgiebig auf neuen Horror hinweisen. "
Erinnern Sie sich an dies, erinnern Sie sich an
das."
Später kehrte
Karski noch einmal in das Ghetto zurück, um weitere
Bestätigung der schrecklichen Bedingungen zu erhalten, verließ es aber nach kurzer Zeit wieder.
"
Ehrlich gesagt konnte ich es nicht mehr ertragen... Mir war schlecht."
Feiner
war jedoch nicht zufrieden. Der Kurier müsste noch mehr sehen, wenn er ein effektiver Zeuge sein sollte.
Karski willigte ein, die "Endlösung" wirklich zu sehen. Als ukrainischer
Wachmann verkleidet suchte er das Transitghetto
Izbica Lubelska auf, wo man die
Juden sammelte, bis
Belzec aufnahmebereit war. Was er dort sah, ist kaum
beschreibbar. Schwer erschüttert von dieser Erfahrung, kehrte
Karski nach
Warschau zurück, um sich auf die lange und beschwerliche Rückreise nach
London vorzubereiten.
Auf seiner Reise trug er einen in einem verschweiß:ten Schlüssel verborgenen Mikrofilm mit sich. Dieser
wurde von
Paris aus sofort nach
London
geschickt, und traf noch vor ihm ein. Am
25. November 1942 kam
Karski
auch wohlbehalten an. Der Mikrofilm bildete die Grundlage für eine Presseerklärung der polnischen
Exilregierung am
24. November 1942, einen Bericht in der
New York Times vom
25. November und einen Bericht in der
Times of London vom
7. Dezember 1942.
Karski hatte gehofft,
Churchill treffen zu
können, musste sich aber zufrieden geben mit einem Interview mit
Eden
im
Februar 1943.
Karski blieb für einige Monate in England und traf auch einige mehr oder
weniger einflussreiche Leute. Es gab jedoch keine relevanten Konsequenzen aus diesen Kontakten, und gleichzeitig
arbeiteten die Vernichtungszentren in Polen weiter.
Die polnische Exilregierung schickte
Karski schließlich in die USA, wo
er am
16. Juni 1943 eintraf. Nun, 11 Monate nach seinem Aufenthalt im
Warschauer
Ghetto (das inzwischen nicht mehr existierte), traf er endlich die Person, die entscheidenden Einfluss
haben könnte auf die Politik der Alliierten, den Präsidenten der USA,
Franklin D
Roosevelt.
Karski nahm kein Blatt vor den Mund, als er dem
Präsidenten von seinen Erlebnissen berichtete:
"
Es gibt einen Unterschied zwischen dem organisierten Terror gegen Polen und Juden.
Die Deutschen wollen den
polnischen Staat ruinieren, aber die jüdische Nation in ihrer biologischen Substanz vernichten. Wenn die
Deutschen nicht ihre Methode ändern, wie sie mit der jüdischen Bevölkerung umgehen, wenn es von
alliierter Seite keine Intervention gibt, ob durch Vergeltungsmaßnahmen oder anders, werden die polnischen
Juden nicht mehr existieren."
Karskis leidenschaftliche Bitte im Namen der Juden beeinflusste möglicherweise
den amerikanischen Präsidenten in seiner Entscheidung, das Amt für Kriegsflüchtlinge am
22. Januar 1944
einzurichten. Dieser Schritt hatte den positiven Effekt, dass das "War Refugee Board" bis zum Kriegsende eine wichtige
Rolle spielte bei der Rettung von ca. 200.000 Juden aus Ungarn und Rumänien. Wenn
Roosevelt nun gehandelt hatte, war es eine sichere Folge von
Karskis tapferen Anstrengungen, das Morden zu beenden. Allerdings hatten
die Lager der Aktion Reinhard
1944 ihre grausame Aufgabe lange erledigt und waren dem
Erdboden gleichgemacht worden. Die meisten Opfer des Holocaust waren bereits tot.
Karskis Mission ist letztlich unterminiert worden von einer Kombination aus
politischer Heuchelei, sorgloser Bürokratie, nationalem Egoismus und Gleichgültigkeit. Es scheint so, als
ob die Juden nichts Wert gewesen seien.
Szwarcbart übermittelte am
4. Dezember 1942
eine Bestätigung für
Karskis Erlebnisse an den Jüdischen Weltkongress in
New York. Wegen der Vorschriften der Kriegszensur blieb eine
Kopie der Nachricht beim "British Public Records Office" in
Kew (Großbritannien) erhalten. Noch außergewöhnlicher ist
das Telegramm, das am Vortag von
Abraham Stupp an den Jüdischen Weltkongress
geschickt worden ist.
Weil Palestina damals britisches Mandatsgebiet war, unterlag dieses Telegramm auch der Kriegszensur, und eine Kopie
des
Telegramms wurde ordnungsgemäß an das Außenministerium geschickt.
Das Telegramm enthielt umfassende Informationen über die Vernichtungspolitik der Nazis, von denen die
Palestina-Flüchtlinge aus erster Hand berichten konnten: 70.000 Juden sind aus
Lublin deportiert worden. 7.000
sind nach
Majdanek geschickt worden. Keine Spur von 63.000, die vermutlich
ermordet worden sind. Im
Mai 1942 gab es in
Krakau nur noch 6.000 Juden. Alle
anderen Juden der Stadt sind nach einem unbekannten Ziel depotiert und wohl ermordet worden. 10.000 Juden wurden von
Tarnow deportiert, wobei 7.000
bereits auf dem Bahnhof erschossen worden sind.
Deportationen aus
Warschau hatten am
22. Juli 1942
begonnen, mit 7.000 Juden
täglich. Bis
Oktober 1942 gab es dort nur noch 36.000 Juden. Die Deportierten sind nach
Treblinka gebracht worden, wo man sie "in sogenannte "Badehäuser"
sperrte, in luftdichte Räume. Die Luft wurde abgepumpt, so dass die Menschen erstickten. Andere Berichte
besagten, dass die Juden mit Giftgas ermordet worden sind." Tatsächlich verließ niemand dieses
"Badehaus" lebend. Leichen wurden am laufenden Bande verbrannt.
Anfang Januar 1942 wurden
Juden aus dem "Wartheland" nach
Chelmno (Chelmno Nad Nerem) gebracht und in Gaswagen ermordet.
Das Telegramm beschrieb dann noch weitere Gräueltaten und schloss mit einer Aufforderung, dass die
Regierungen der zivilisierten Welt diesen Verbrechen ein Ende bereiten sollten. Eine Kopie dieses Telegramms wurde
an die Regierungen der demokratischen Staaten verschickt, unterzeichnet von
Anselm
Reiss, Repräsentant der polnischen Juden.
Bis jetzt hatten die Alliierten eine peinliche Menge an detaillierten Informationen über die Vernichtung
der Juden. Viel mehr folgte noch in den Jahren
1943 bis 1944, besonders hinsichtlich
Auschwitz. Von dort erhielt das londoner Büro des
"United States Office of Strategic Services" (Vorläufer des CIA) einen umfassenden Bericht. Dieser war am
10. und 12. August 1943
zusammengestellt worden und am
28. Januar 1944 in
London angekommen. Er
enthielt umfassende Informationen über das Morden in
Auschwitz. Unter
anderem beschreibt der Report die Vergasung von 468.000 nicht registrierter Juden bis
September 1942.
Zwischen
September 1942 und Anfang Juni 1943 trafen ca. 60.000 Juden aus Griechenland, 50.000 Juden aus der Slowakei und
dem "Protektorat Böhmen und Mähren", 60.000 Juden aus den
Niederlanden, Belgien und
Frankreich sowie
16.000 Juden aus polnischen Städten in
Auschwitz ein.
Anfang August trafen 15.000 Juden aus
Sosnowiec und
Bedzin ein. Von allen Ankommenden hatten nur 2% überlebt. Von mehr als
14.000 Roma wurden 90% vergast.
Der Bericht beschrieb auch die Krematorien in
Birkenau und gibt Auskunft über
die
Haupttäter:
Höss, Schwarz,
Aumeier, Mandel, Grabner, und
Boger. Der Report endet mit der
Feststellung: "
Die Geschichte kennt keine Parallele hinsichtlich der Zerstörung
menschlichen Lebens."
Am
25. September 1943 berichtete das Internationale Rote Kreuz über
Ghettoliquidationen in Galizien und ein Massaker an der jüdischen Bevölkerung von
Rawa Ruska im
Dezember 1942.
Es gab die Aussage eines
Treblinka-Flüchtlings,
David Milgrom, vom
30. August 1943, und einen
Bericht über Erschießungen in
Majdanek am
24. Februar 1944
(
Aktion Erntefest).
|
Rudolf Vrba |
Am
10.April 1944 entkamen zwei slowakische Juden,
Rudolf
Vrba (Walter Rosenberg)
und
Alfred Wetzler, aus
Auschwitz-Birkenau.
Möglicherweise die Slowakei erreichend, machten sie lange und detaillierte Aussagen gegenüber dem
Judenrat in
Zilina.
Am
19. März 1944 besetzte die deutsche Armee Ungarn. Im selben Monat wurde die Rampe in
Birkenau, die direkt zu den Krematorien ausgerichtet war, fertig gestellt.
Man hörte in der Umgebung des Lagers SS-Männer von "ungarischer Salami" reden. Offensichtlich sollten
die nächsten Opfer aus Ungarn sein, dem Land mit der größten jüdischen Bevölkerung,
die es innerhalb des Nazi-Machtbereiches noch gab.
Vrba und
Wetzler wussten, dass sie die
ungarischen Juden vor dem bevorstehenden Schicksal warnen mussten.
Anfang Mai 1944
schickten sie einen Bericht an das ungarische Außenministerium. Eine Kopie wurde am
16. Juni an die Kommission für Kriegsflüchtlinge geschickt.
Trotz allem begannen die Deportationen ungarischer Juden nach
Birkenau
am
15. Mai 1944 und setzten sich fort bis zum
9. Juli 1944.
437.000 Juden wurden deportiert, die meisten kurz nach der Ankunft vergast.
Viele Berichte waren allerdings fehlerhaft. Einzeln gesehen, sind manche fragwürdig. Insgesamt gesehen
belegen diese Berichte aber unbestritten die Tatsache, dass die Deutschen ein ungeheures Verbrechen in Europa
ver&uumL,bten. Nur diejenigen, die es nicht sehen wollten, konnten ableugnen, dass es eine gut organisierte
und effektive Machinerie des Massenmordes in Europa gab.
Das Verschwinden der Juden, und möglicherweise ihre Vernichtung, war nicht irgendeinem anderen Zweck
untergeordnet. Obwohl der Raub von jüdischem Eigentum keine geringe Rolle spielte, war doch die Ausrottung
der Juden das eigentliche Ziel von
Hitlers Judenpolitik.
Hitlerdeutschland wollte die Juden vernichten. Die Alliierten kämpften aber nicht, um die Juden
zu retten, zumindest war es nicht eines der vorrangigen Kriegsziele. Die Alliierten konnten viele Gründe
für ihre Untätigkeit nennen; einige stichhaltig, andere fragwürdig. Die Verschiffung der Juden
in die Sicherheit war nicht möglich. Es mag ausländische Agenten unter den Flüchtlingen gegeben haben,
die die Kriegsanstrengungen hätten unterminieren können. Sowohl in Großbritannien als auch in den USA
gab es Befürchtungen, dass der Antisemitismus durch den Zustrom einer großen Anzahl von Juden gefördert
werden könnte. Die Briten waren besorgt über einen möglichen Zustrom von Juden nach Palestina.
Nichts war erlaubt, die Alliierten von ihrem militärischen Ziel abzubringen, Deutschland zu schlagen. Letztlich,
und auch am wichtigsten, war die Tatsache, dass man die Juden weder als Nationalität noch als Alliierte ansah.
Aus dieser Argumentation heraus war die jüdische Situation hoffnungslos.
Es gab einen großen Anteil von Zynismus in der Einstellung der Alliierten. Man hielt es nicht für nötig,
den Juden in ihrer verzweifelten Lage irgendeinen Vorrang einzuräumen. Tatsächlich herrschte in
alliierten Kreisen eher eine gegenteilige Meinung vor.
Die Alliierten fürchteten, die Juden als Sonderfall anzusehen. Über 100.000 Polen, Griechen und
Jugoslawen sind ab
1942 evakuiert worden. Die Alliierten kamen den
Nahrungsmittelanforderungen der griechischen
Bevölkerung
zwischen 1942 und 1945 im Wesentlichen nach.
Der stellvertretende amerikanische Staatssekretär
Breckinridge Long
vertraute im
April 1943 seinem Tagebuch an, "
dass jede Hilfe
für Juden im Namen der Alliierten für
Hitler so aussehen würde, als ob wir diesen Krieg um der Juden willen
führten, angestiftet und geleitet von unseren j&uumL;dischen Mitbürgern."
1942 hatten die Alliierten weder die Mittel noch den Willen, die europäischen
Juden zu unterstützen.
Sie verloren an allen Fronten. Eine militärische Intervention irgendeiner Art in Ostpolen oder der
westlichen Sowjetunion war unmöglich, was aber nicht heißen soll, dass man nicht doch etwas
hätte tun können. Wenn man
1942 nicht militärisch eingreifen konnte,
sah es doch
1944 anders aus.
Auf wiederholte Anfragen jüdischer Führer, die Krematorien von
Birkenau
und die dorthin führenden Eisenbahnstrecken zu bombardieren, gab es immer wieder die Standartantwort, dass
jegliche Aufspaltung von Mensch und Material den Sieg der Alliierten verzögern würde. Nur ein Sieg
über die Nazis könne die Juden retten. Das war eine selbstverständliche Wahrheit, aber das Argument war
trügerisch. Die einfache Tatsache war, dass die Nazis die Juden schneller töteten, als die Alliierten
den Krieg gewannen. 6 Millionen Leichen befreien? Die Alliierten waren nicht in der Lage, oder nicht willig, dieses
Dilemma zuzugeben.
William J Casey, Mitglied des "United States Office of Strategic
Services" (OSS) und in
London stationiert, schrieb in seinen Memoiren:
"
Ich werde nie verstehen, wie wir mit all unserem Wissen über Deutschland und seine
Militärmaschinerie so wenig über die Konzentrationslager und das Ausmaß des Holocaust wussten.
Wir wussten zwar allgemein, dass die Juden verfolgt wurden, dass man sie in den besetzten Gebieten einfing
und nach Deutschland verschleppte, dass sie nach Lagern deportiert wurden und dass Brutalität und Morden in
den Lagern statt fanden. Aber nur wenige, wenn überhaupt, verstanden das Ausmaß. Es war nicht ausreichend
real, um sich von der allgemeinen Brutalität und dem Gemetzel des Krieges abzuheben. Man unterhielt sich
in London nicht viel über Konzentrationslager; es sei denn als Orte, wohin
die Deutschen gefangene Agenten oder Widerstandskämpfer einlieferten, wenn diese nicht schon auf der Stelle
erschossen worden waren. Und die Berichte, die wir erhielten, wurden beiseite gelegt wegen der offiziellen Politik
in Washington und London, sich nur auf die
Abwehr des Feindes zu konzentrieren."
Die Bombardierung von Eisenbahnlinien wäre sicher uneffektiv gewesen, denn sie wären schnell erneuert
worden. Tatsächlich wurde
Auschwitz trotzdem von der USAAF viermal
zwischen August und Dezember 1944 bombardiert. Das Ziel waren aber nicht die
Gaskammern oder andere Einrichtungen des Lagers
Birkenau, die im
August und September immer noch ihrer grausamen Aufgabe
nachkamen, sondern der Industriekomplex in
Monowitz.
Man muss eingestehen, dass die Bombardierung von
Birkenau die Juden dort nicht
notwendigerweise gerettet hätte. Die Nazis waren so von dem Vernichtungsprogramm überzeugt, dass sie die
Tötung der verbliebenen Juden auch mit anderen Mitteln vollbracht hätten. So wurden z.B. innerhalb von
nur zwei Tagen im
November des Jahres 1943 42.000 Juden im Rahmen der "Aktion Erntefest"
erschossen.
Im
Sommer 1944 setzte man noch Gaswagen in
Chelmno
ein, wenn auch nur für eine
kurze Zeit. Die Absicht zu töten war so zielstrebig, dass es keine Alternativen gab. Irgendein an die
Nazis gerichteteter Hinweis, dass man über das Morden Bescheid weiss, hätte immerhin eine gewisse
Chance gehabt, noch Leben retten zu können.
Es gab aber noch einen anderen Faktor in dem gleichgültigen Verhalten der Alliierten. Die Haltung vieler
britischer und amerikanischer Politiker, Staatsbeamter, Diplomaten und Militärs war nicht sehr positiv. Ihre
Reaktion variierte zwischen Ungläubigkeit und Apathie, Eigennutz und Voreingenommenheit. Gemäß
seines Privatsekretärs hat
Eden mindestens zweimal seine Abneigung gegen
Juden ausgedrückt. Das passte zu der Haltung einiger Bediensteter des britischen Außenministeriums und
des United States State Departments. Es wird oft vergessen wie alltäglich es war, fast war es Mode, dass man
sich in der Vor-Holocaust-Zeit als Antisemit zeigte.
Breckinridge Long war der Meinung, dass
Hitlers
Buch "Mein Kampf" den richtigen Sachverhalt schilderte, dass nämlich die Juden Kommunismus und Chaos
verkörperten.
Als das US-Finanzministerium versuchte, eine Geldüberweisung von jüdischen Wohltätigkeitsorganisationen
zum Aufbau eines Hilfsprogramms zu genehmigen, wurde das vom US-Außenministerium monatelang blockiert.
Die Briten waren nicht weniger gefühllos. Im
Dezember 1943 wurde ein Telegramm von
London nach
Washington geschickt, das sich gegen
derartige Hilfsprogramme wendete, wegen "
der Schwierigkeiten, die die Vielzahl von
Juden machen würde, wenn sie gerettet würden."
Im
August 1943 schrieb der Vertreter im Britischen Außenministerium,
Roger Allen,
an den Vorsitzenden des Joint Intelligence Committees,
William Cavendish-Bentinck,
und ging auf britische Beobachtungen (die die Juden allerdings nicht erwähnten) ein, die von polnischen
Untergrundquellen stammten und sich mit der nationalsozialistischen
Vernichtungspolitik in Ostpolen befassten.
Allen, u.a.:
“
Es ist wahr, dass es in anderen Berichten Hinweise gegeben hat über den Einsatz von
Gaskammern. Diese Berichte sind, wenn auch nicht immer, gewöhnlich vage gewesen und stammten, soweit sie die
Vernichtung der Juden betrafen, von jüdischen Quellen. Ich habe nie richtig verstanden, welchen Vorteil die Gaskammer
gegenüber dem einfacheren Maschinengewehr hatte, oder der ebenso einfachen Methode des Verhungernlassens. Diese
Geschichten mögen wahr oder unwahr sein; aber in jedem Fall schlage ich vor, dass wir keine Erklärung
herausgeben, wenn sie nicht schlüssig ist und wir sie nicht bewerten können."
Cavendish-Bentinck fügte seinen eigenen Kommentar ein:
”
Meiner Meinung nach ist es nicht korrekt, polnische
Informationen bezüglich deutscher Gräueltaten als "vertrauenswürdig"
zu bezeichnen. Die Polen, und in noch größerem Maße die Juden,
neigen dazu, deutsche Gräueltaten zu übertreiben, um uns aufzuhetzen.
Sie scheinen erfolgreich gewesen zu sein. Herr Allen
und ich selbst haben beide sehr aufmerksam deutsche Gräueltaten verfolgt. Ich glaube nicht, dass es
irgendeinen Beweis gibt, der vor einem Gerichtshof Bestand hätte, dass sowohl polnische Kinder von den Deutschen
auf der Stelle ermordet worden sind, während man ihre Eltern zur Arbeit nach Deutschland deportiert hat, als
auch polnische Kinder an deutsche Siedler verkauft worden sind. Was das Töten von Polen in Gaskammern anbelangt,
glaube ich nicht, dass es irgendeinen Beweis dafür gibt."
Eine interne Untersuchung im Jahre
1944, die die Frage der Vorgehensweise
des US-Außenministeriums hinsichtlich
der Rettung der Juden betraf, war betitelt: "Report to the Secretary on the Acquiescence of this Government in the
murder of the Jews." In einer Meinungsumfrage gegen Ende des Krieges waren 75 - 85% der Amerikaner gegen eine Lockerung
der Einwandererquote, was zweifellos jüdischen Flüchtlingen geholfen hätte.
Meinungsumfragen in ganz Amerika zeigten, dass man nur Japaner und Deutsche als größere Bedrohung für
die amerikanische Gesellschaft empfand als die Juden. Wenn der Antisemitismus in England auch weniger in der
Ö,ffentlichkeit geäußert wurde, gab es ihn doch in allen Bevölkerungsschichten.
Unter dem Druck der zunehmenden Beweise veranstalteten die Briten und Amerikaner am
19. April 1943 eine Konferenz
auf den Bermudas, um angeblich eine Lösung für das Flüchtlingsproblem zu finden. Die Teilnehmer
schlossen kategorisch jede Annäherung an
Hitler aus, was die Entlassung
von Juden in den besetzten Gebieten, den Austausch von Kriegsgefangenen oder die Sendung von Nahrung an die
europäischen Juden betraf. Der Bezug zum Problem der Juden wurde einfach unterdrückt. Die Briten
bestanden darauf, dass die Juden nur ein Problem von vielen anderen darstellten. Das US-Außenministerium
bestand auf der Verwendung des Begriffes "politische Flüchtlinge", was das wahre Problem verheimlichte.
Man erreichte die stillschweigende Übereinkunft, dass die Amerikaner die Briten nicht wegen Palästina
unter Druck setzten, und die Briten sich bedeckt halten, was die jüdische Einwanderung in die USA betraf.
Auf jeden Fall war diese Konferenz ein Disaster für die Juden. Sie fühlten sich verlassen und vergessen.
Und das waren sie tatsächlich.
Während des Krieges gab es zwar eine gewisse Hilfe in diversen Ländern Europas, besonders auch durch
das "American Jewish Joint Distribution Committee" ("Joint") und im letzten Kriegsjahr durch das "War Refugee Board",
doch letztlich war die Hilfe zu gering und kam zu spät.
Es gibt manche, die (teilweise berechtigt) sagen, dass man hinterher die Alliierten leicht kritisieren kann.
Die Welt von
1942 unterscheidet sich sehr von unserer heutigen. Nur die, die
den Krieg selbst erlebt haben, können
die Schwierigkeiten, mit denen sich die Alliierten konfrontiert sahen, einschätzen. Viele der Vorschläge, die
man den Alliierten gemacht hat, waren schlicht nicht zu verwirklichen bzw. nach internationalem Recht illegal.
Andere, weniger direkte Aktionen wären aber möglich gewesen. Vorübergehende Flüchtlingslager in
neutralen Staaten wie Spanien, Portugal, der Türkei, der Schweiz und Schweden hätten eingerichtet werden
können. Ein Leben als "displaced person", um den bürokratischen Nachkriegsausdruck zu verwenden, wäre
sicher nicht angenehm gewesen, aber doch immerhin besser als die Alternative des Todes.
Nicht zuletzt hätte man auch die Flüchtlingsquoten für Palestina und die USA voll ausschöpfen
können, was nicht geschah.
Breckinridge Long, mit der U.S.-Flüchtlingspolitik
befasst, kommentierte in einem internen Memorandum des State Departments im
Juni 1940:
"
Wir können die Anzahl von Immigranten in die USA verzögern und für eine
unbestimmte Zeit stoppen. Wir könnten dies tun durch einfache Anweisung an unsere Konsuln, jedes
Hindernis in den Weg zu stellen und ... auf diverse administrative Tricks zurück greifen, die die
Ausstellung von Visa verschieben und verschieben und verschieben."
Im
Juli 1941 wurden nur 25% der verfügbaren US-Kontingente in Anspruch genommen.
Eine einfache Maßnahme hätte evtl. viele Leben gerettet: Die konsequente Nutzung des Radios zur Verbreitung
von Informationen über das Schicksal der Juden. Manch einer hätte die Meldungen richtig eingeschätzt und
der Widerstand gegen
Hitler wäre evtl. größer gewesen.
Rudolf Vrba meinte:
"
Hätte irgendjemand mich lebend nach
Auschwitz gekriegt, wenn ich gewusst hätte, was das bedeutet? Hätten
tausende und abertausende von gesunden jüdischen Männern ihre Kinder, Frauen oder Mütter aus ganz
Europa nach Auschwitz fahren lassen, wenn sie gewusst hätten?"
Vielleicht war es ohnehin zu spät gewesen für die Rettung der polnischen Juden, vielleicht hätte
keiner dieser Vorschläge einen Juden gerettet. Aber ein gewisses Handeln hätte die Alliierten
immerhin moralisch besser dastehen lassen und vermieden, dass man ihnen nach dem Krieg vorwarf, sich nicht groß
gekümmert zu haben. Untätigkeit war keine Option. Mitfühlende Worte und Versprechen auf Vergeltung
halfen den Opfern nicht wirklich. Sinnvolle Taten wären erforderlich gewesen. Über allem steht die
fehlerhafte Einschätzung des Gegners, kombiniert mit einem Mangel an Mitgefühl, für das die
Alliierten verantwortlich sind. So fügte sich das Verhalten der Alliierten unbeabsichtigt in die Nazipolitik
eines Völkermordes.
Sogar nach Einnahme des
KZ Majdanek durch sowjetische Truppen
im
Juli 1944 und der darauf folgenden Erlaubnis für westliche Reporter, das Lager zu
besichtigen sowie der Darstellung der Krematorien in Wochenschauen und Fotos in Kinos und Zeitungen, versuchten viele immer noch,
die Realität der Ereignisse zu verdrängen. Die
Times of London fragte sich, ob es der gute Geschmack erlaube,
die Gräuel von
Majdanek darzustellen. Die
BBC teilte ihrem
Korrespondenten bei der Roten Armee mit, dass sein Bericht aus
Majdanek ein
"Propagandafilm" sei. Er wurde nicht gesendet.
Das Schicksal der europäischen Juden war schon besiegelt, bevor die
Einsatzgruppen den Osten Europas mit
Tod und Verderben überzogen, bevor die Züge nach
Belzec, Sobibor und
Treblinka fuhren. Die Juden waren bereits verdammt durch eine Mischung aus
Eigennutz, Ausländerhass und Intoleranz vor dem Kriege. Die Ereignisse der "Reichskristallnacht" im
November 1938 hätten eigentlich jedem Menschen zeigen müssen, was die
Nazis mit den Juden im Sinn hatten. Wenn
auch niemand den Holocaust vorhersehen konnte, hätte doch ein gewisses Maß an Humanität die
zivilisierten, freien Nationen zwingen müssen, ihre Türen weit zu öffnen. Sie blieben jedoch
weitgehend verschlossen.
Vielleicht sollten die Schlussüberlegungen zu diesem Kapitel moderner Geschichte
Szmul Zygelbojm gehören, der so verzweifelt für die Anerkennung
der Notlage der polnischen Juden gekämpft hat. Verzweifelt über die Nachricht, dass die letzten Juden
des
Warschauer Ghettos, einschließlich seiner Frau
Manya und seines 16jährigen Sohnes
Tuvia, liquidiert worden waren, nahm er sich am
12. Mai 1943 im Alter von 48 Jahren in
London das Leben. Sein letzter Brief, an die Mitglieder der Polnischen
Exilregierung, enthält diese Zeilen:
"
Die Verantwortung für die Ermordung der gesamten jüdischen Bevölkerung
liegt in erster Linie bei den Mördern, aber indirekt ist auch die menschliche Gesellschaft als Ganzes
verantwortlich - alle alliierten Nationen und ihre Regierungen, die bis heute nichts getan haben um das
Verbrechen zu stoppen. Ich kann nicht schweigen, ich kann nicht leben während die Reste der jüdischen
Bevölkerung in Polen, die mich hierher geschickt hat, zerstört werden. Meine Kameraden im
Warschauer Ghetto sind als Helden gestorben, mit der Waffe in der Hand. Ich hatte
nicht die Ehre, wie sie zu fallen. Aber ich gehöre zu ihnen und zu ihren Gräbern, ihrem Massengrab.
Möge mein Tod ein widerhallender Schrei der Anklage gegen die Gleichgültigkeit sein, mit der die Welt
auf die Zerstörung der jüdischen Welt blickt, zuschaut und nichts tut."
Quellen:
1) Hilberg, Raul.
The Destruction of the European Jews, Yale University Press, New Haven, 2003
2) Hilberg, Raul.
Perpetrators Victims Bystanders, Harper Collins, New York, 1993
3) Gutman, Israel, ed.
Encyclopedia of the Holocaust, Macmillan Publishing Company, New York, 1990
4) Gilbert, Martin.
The Holocaust – The Jewish Tragedy, William Collins Sons & Co. Limited, London, 1986
5) Wistrich, Robert S.
Hitler and the Holocaust, Phoenix Press, London, 2002
6) Browning, Christopher R.
Ordinary Men, HarperCollins, New York, 1993
7) Landau, Ronnie S.
The Nazi Holocaust, I B Tauris & Co Ltd, London & New York, 1992
8) Lanzmann, Claude.
Shoah, Da Capo Press, New York, 1995
9) Dawidowicz Luc S.
The War Against the Jews, Bantam Books, New York, 1979
10) Swiebocki, Henryk, ed.
London Has Been Informed…, The Auschwitz-Birkenau State Museum, 1997
11) Wood, E. Thomas & Jankowski, Stanislaw M.
Karski, John Wiley & Sons Inc, New York, 1994
12) Pohl, Dieter.
The Murder of Jews in the General Government, (in Ulrich Herbert, ed.
National Socialist
Extermination Policies), Berghahn Books, New York, 2000
13) Kushner, Tony.
Different Worlds – British perceptions of the Final Solution during the Second World War,
(in Cesarani, David, ed.
The Final Solution – Origins and Implementation), Routledge, London, 1996
14) Wyman, David S. ed.
The World Reacts to The Holocaust, The John Hopkins University Press, Baltimore, 1996
Fotos: GFH
© ARC 2005